1989 - 1990 Wende-Zeiten

Volkskammerwahl 1990

Am 18. März 1990 stellten sich 24 Parteien, politische Vereinigungen und Bündnisse zur ersten und letzten freien, demokratischen Volkskammerwahl in der DDR. Dieses Datum wurde vom Zentralen Runden Tisch am 28. Januar 1990 festgelegt. Mit 48,15 Prozent gewann das konservative Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“, ein Zusammenschluss aus den Parteien CDU (DDR), DSU und DA, die Parlamentswahlen. Mit diesem Wahlergebnis hatten sich die Wähler der DDR für eine rasche Wiedervereinigung ausgesprochen.

Wegen der prekären innenpolitischen Situation in der DDR verständigten sich Vertreter des Runden Tisches zusammen mit DDR-Ministerpräsident Hans Modrow am 28. Januar 1990 in einer Sitzung darauf, die Volkskammerwahl auf den 18. März vorzuverlegen. Ursprünglich war der 6. Mai als Termin vorgesehen gewesen. Auf diesen Tag wurden nun die Kommunalwahlen gelegt.

Am 20. Februar beschloss die Volkskammer der DDR das neue Wahlgesetz und die Wahlordnung: Im neuen Parlament der DDR sollten statt 500 nur noch 400 Abgeordnete sitzen, die frei, allgemein, gleich, direkt und geheim gewählt werden konnten. Listenverbindungen wurden zugelassen, eine Sperrklausel, wie die 5-Prozent-Hürde in der Bundesrepublik, wurde nicht eingeführt. Das Wahlgesetz sah keine Direktmandate vor. Die DDR wurde in 15 Wahlkreise eingeteilt und die Sitze im Parlament wurden zentral nach dem Wahlsystem der Verhältniswahl für die gesamte DDR errechnet.

Am 23. Februar rief die Wahlkommission die Parteien und politischen Gruppierungen auf, bis zum 28. Februar ihre Vorschläge in den Wahlkreisen einzureichen. Insgesamt wurden 24 Parteien, politische Vereinigungen und Listenvereinigungen für die Volkskammerwahl zugelassen. Diese wurden am 9. März durch die Wahlkommission bekannt gegeben.

Voraussetzungen der alten und neuen politischen Kräfte

Die PDS hatte als Nachfolgeorganisation der ehemaligen DDR-Staatspartei SED einen erheblichen Mitgliederschwund zu verzeichnen. Sie war jedoch den neuen Parteien und Gruppierungen hinsichtlich ihrer Parteiorganisation und politischen Erfahrung weit überlegen.

Die SPD (DDR) hatte schon sehr frühzeitig von der Schwesterpartei aus der Bundesrepublik Unterstützung beim Aufbau einer effektiven Parteiorganisation erhalten. Durch die Wahl Willy Brandts zum Ehrenvorsitzenden der ostdeutschen SPD auf dem ersten ordentlichen Parteitag vom 22. bis 25. Februar stand ihr eine prominente Persönlichkeit aus dem Westen zur Seite.

Die SPD wurde  im Vorfeld der Wahlen bei politischen Beobachtern lange Zeit als vermutlicher Wahlsieger gehandelt. Noch Anfang Februar lag die SPD nach Meinungsumfragen mit 54 Prozent der Wählerstimmen weit in Führung.

Die CDU der DDR war keine Neugründung, sie hatte 40 Jahre als Blockpartei existiert und sich dem Führungsanspruch der SED untergeordnet. Daher nahm die CDU der Bundesrepublik zunächst eine distanzierte Haltung gegenüber der Ost-CDU ein. Bundeskanzler Kohl traf den DDR-Parteivorsitzenden Lothar de Maizière erst Anfang Februar, um ihm seine Hilfe anzubieten. Der Bundeskanzler wollte mit de Maizière die Möglichkeit eines konservativen Wahlbündnisses besprechen, um der SPD Wählerstimmen abzunehmen. Am 5. Februar wurde die „Allianz für Deutschland“ gegründet, ein Wahlbündnis aus CDU, dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU).

Auch die FDP der Bundesrepublik zögerte zunächst, mit den liberalen Kräften in der DDR zu kooperieren. Erst mit der Gründung des Wahlbündnisses „Bund Freier Demokraten“ (BFD) am 12. Februar unterstützte die FDP (BRD) materiell die Liberalen in Ostdeutschland.

Der BFD bestand aus den neu gegründeten Parteien Freie Demokratische Partei (F.D.P./DDR) und Deutsche Forumpartei (DFP), sowie der ehemaligen Blockpartei Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD).

Die Bürgerbewegungen der DDR, die sich im Herbst 1989 politisches Mitspracherecht verschafft hatten, gingen angesichts der Volkskammerwahl ebenfalls Wahlbündnisse ein. Die Initiative für Frieden und Menschenrechte, das Neue Forum sowie Demokratie Jetzt schlossen sich zum Beispiel zu dem Wahlbündnis „Bündnis 90“ zusammen. Die politischen Vorstellungen der Bürgerbewegungen wurden vor dem Hintergrund der neuen politischen und wirtschaftlichen Lage im Land von der Bevölkerung jedoch vielfach als zu idealistisch wahrgenommen. Ihr politisches Durchsetzungsvermögen im neuen Parteienspektrum der DDR war zudem durch mangelnde Organisation und Konzeption sowie durch das Fehlen westlicher Partner gemindert.

Der Wahlkampf

Parteien und prominente Politiker aus der Bundesrepublik gewannen zunehmend Einfluss auf die Entwicklung des Wahlkampfes in der DDR. Insgesamt wurden 7,5 Millionen DM für den Wahlkampf in der DDR eingesetzt. Über die Häfte dieser Summe stammte von der CDU/CSU, die 4,5 Millionen für den Wahlkampf der Schwesterpartei in der DDR zur Verfügung stellte.

Zu den Großveranstaltungen der Parteien erschien die bundesrepublikanische Politprominenz, wie Willy Brandt (SPD) in Erfurt, Hans-Dietrich Genscher (FDP) in Magdeburg oder Oskar Lafontaine (SPD) in Jena.

Helmut Kohl, der die Einheit Deutschlands zu seinem politischen Ziel deklarierte und im Falle einer Wirtschafts- und Währungsunion einen Umtauschkurs der DDR-Mark in D-Mark von 1:1 versprach, konnte am 14. März in Leipzig 300.000 Menschen zu einer Wahlveranstaltung auf die Straße locken.

Der Jubel für Helmut Kohl war jedoch nicht uneingeschränkt, Gegendemonstranten störten diese Kundgebung.

Die PDS, die sehr bestimmt für den Erhalt der DDR eintrat und im Februar mit 12 Prozent der Stimmen in der Wählergunst stand, konnte aufgrund ihrer politischen Erfahrungen und Strukturen viele Anhänger mobilisieren.

Als Gregor Gysi eine Woche vor der Wahl in Friedersdorf zum ersten Mal einen Fallschirmsprung wagte, wollte er dies nicht als Wahlkampfaktion verstanden wissen, sondern verkaufte es als Werbung für diesen Sport.

Auf den Wahlplakaten und in öffentlichen Statements wurde der Wahlkampf nicht nur mit Sachargumenten ausgetragen. Die Parteien warben nicht nur für ihre jeweiligen politischen Standpunkte, sondern versuchten mit provokativen Aussagen gegen die Konkurrenz vorzugehen. Die PDS polemisierte gegen den Kapitalismus und ein wiedervereinigtes „Großdeutschland“. Der Demokratische Aufbruch versuchte eine Verflechtung von PDS und SPD zu konstruieren, die SPD wies auf die Vergangenheit der CDU als Blockpartei hin. Auch die Bevölkerung beteiligte sich am Wahlkampf und äußerte ihre Meinung auf Wahlplakaten und in Form von Gegendemonstrationen im Zuge von Wahlveranstaltungen.

Am 14. März berichteten Mitglieder vom „Unabhängigen Kontakttelefon“ – eine Vereinigung, die sich gegen den Wahlbetrug der Kommunalwahlen im Mai 1989 eingesetzt hatte – während einer Pressekonferenz über Zwischenfälle im Wahlkampf. Die „Aktuelle Kamera“ sendete einen Bericht darüber.

Die Journalistin Margit Geßner berichtete darin:

„Mancher nahm ihn gar wörtlich: den Kampf um ein Wahlmandat. Der Ausfälle gab es genug, die Fairness ließ zu wünschen übrig. Das Unabhängige Kontakttelefon, vor einem Jahr im Mai noch eifriger Registrator von Wahlbetrug, muss nun feststellen, die Kultur blieb auf der Strecke. Überklebte Plakate, Verunglimpfungen der Parteien, einzelner Personen, Kinder, die als Werber arbeiten und immer wieder Beschimpfungen, oft weit unter der Gürtellinie angesiedelt. So wurde für die Allianz für Deutschland geworben, indem man vor dem „SED-Gauleiter Modrow“ warnte, und auch Ibrahim Böhme von der SPD bekam die entsprechende Charakteristik mit der demagogischen Frage: „Wollen Sie, dass ein alternativer Marxist DDR-Ministerpräsident wird?“ Zerschlagene Fenster und Buttersäure gab es in CDU- und DA-Büros und beim Neuen Forum. Gegendemonstrationen sorgten oft für Gewalt. In Berlin registrierte die Polizei allein 18 kriminelle Vorfälle. Und es gab zwei Wahlkämpfe: der von DDR-Bürgern und jener von bundesdeutschen Politikern.“

Einen Tag vor der Wahl stellte der Deutsche Fernsehfunk (DFF) sein Wahlstudio im Palast der Republik vor, aus dem am nächsten Tag aktuell berichtet wurde.

Nach den ersten Hochrechnungen am Abend des 18. März zeichnete sich bereits der geringe Stimmanteil für die DDR-Bürgerbewegungen ab. Die Moderatoren Elke Bitterhof und Frank Siebenhaar führten ein Interview mit dem Liedermacher Wolf Biermann, der sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte.

Frank Siebenhaar sprach Wolf Biermann auf einen Lied-Titel von ihm an: „Herr Biermann, in einem Lied von Ihnen, jetzt fast schon ein Biermann-Oldie, heißt es: 'Was wird aus unseren Träumen in diesem zerrissenen Land.' Sind diese Träume ausgeträumt?“ Wolf Biermann antwortete: „Meine Träume von einer gerechteren Gesellschaft, in der die Menschen menschlicher miteinander umgehen, werden niemals ausgeträumt, solange ich noch träumen kann. Aber ich hatte nicht den Traum, dass hier in der DDR jetzt ein wirklich besseres Deutschland sich entwickelt. Den Traum hatte ich vor einer Epoche, vor drei Monaten. Als alles hier anfing. Da dachte ich allen Ernstes, dass diejenigen, die die Revolution hier gemacht haben, die in den Jahren der Tyrannei sich gewehrt haben gegen die Unterdrückung, die von der Staatssicherheit verfolgt wurden und eingesperrt wurden, dass diese Menschen nach der Revolution auch eine Rolle spielen werden. Aber genau diese Menschen sind es ja, die bei dieser Wahl nicht mal drei, vier Prozent gekriegt haben. Das tut mir weh, das bedaure ich, obwohl ich es natürlich verstehe. Wundern tu ich mich darüber nicht so sehr.“

48,15 Prozent der Wähler hatten für die Parteien der Allianz für Deutschland gestimmt, 21,9 Prozent für die SPD, 16,4 Prozent für die PDS und 5,3 Prozent für die Freien Demokraten. Das Bündnis 90 erhielt lediglich 2,9 Prozent.

93,4 Prozent der wahlberechtigten Bürger hatten ihre Stimme abgegeben. Es handelte sich damit um die höchste Wahlbeteiligung, die bei demokratischen Parlamentswahlen in Deutschland jemals gemessen wurde.

Bei dieser ersten freien, demokratischen Volkskammerwahl in der DDR entschied sich die Bevölkerung für das politische Programm der Allianz für Deutschland: eine schnelle Wiedervereinigung, die D-Mark und die Marktwirtschaft. Bereits im Februar ergaben Meinungsumfragen, dass 75 Prozent der Bevölkerung der DDR die Wiedervereinigung begrüßten. Die Wahlniederlage der SPD stand offenbar mit ihrer Zurückhaltung bezüglich einer baldigen Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer raschen Wiedervereinigung in Zusammenhang.

Mit dem Wahlergebnis hatte sich ein großer Teil der DDR-Wähler für die deutsche Wiedervereinigung und gegen das Fortbestehen der DDR entschieden.

Literatur

Görtemaker, Manfred: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250), Bonn 2005.

Lehmann, Hans-Georg: Deutschland-Chronik. 1945-1995, Bonn 1995.

Neubert, Erhart: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90,  München 2008.

www.verfassungen.de/de/ddr/wahlgesetz90.html (Abruf 28.07.2009)

(ks)