1989 - 1990 Wende-Zeiten

Berichterstattung der Aktuellen Kamera über die Ereignisse im Oktober 1989

Während Presse, Rundfunk und Fernsehen der Bundesrepublik über die Massendemonstrationen der DDR-Bürger in Leipzig, Berlin und Dresden berichteten, fanden die Proteste in den Medien der DDR zunächst keine Erwähnung. Erst als sich die Ereignisse überschlugen, die Ausreisewelle von DDR-Bürgern kein Ende fand und sich die Massenproteste nicht mehr verheimlichen ließen, reagierte die politische Führung und die Berichterstattung informierte über das tatsächliche Tagesgeschehen.

Auf den Demonstrationen im Herbst 1989 in den Großstädten der DDR wurde der Ruf nach Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit laut. Zwar besagte der Artikel 27 der DDR-Verfassung, dass jeder Bürger das Recht habe, „seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“ und dass die „Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens gewährleistet“ sei, doch wurden diese Grundsätze in der Praxis nicht umgesetzt. Vielmehr kontrollierte der zuständige Sekretär des Zentralkomitees der SED den Grad der „Informationsfreiheit“ in den Chefetagen der Sendeanstalten und Redaktionen. Dieser Sachverhalt spiegelt sich deutlich in der Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“, der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, wider. Während die Bundesrepublik bereits Anfang Oktober 1989 in Presse, Rundfunk und Fernsehen über die Demonstrationen in Leipzig, Berlin und Dresden berichtete, erfuhren die Zuschauer der „Aktuellen Kamera“ vorerst nichts über die lautstarken Proteste. Erst nach der Auflösung der Abteilung Agitation im ZK der SED am 19. Oktober, berichtete die „Aktuelle Kamera“ zunehmend über die tatsächliche politische Lage im Land.

Im Folgenden werden 2 Wochen Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ über die Ereignisse im Oktober 1989 vorgestellt, die die Entwicklung und die Veränderung in der Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ zeigen. Die erste Woche beginnt mit dem 2. Oktober. An diesem Tag wird eine Demonstration in Leipzig mit mehr als 20.000 Menschen von den Sicherheitsorganen der DDR gewaltsam aufgelöst. Die zweite Woche im Oktober startet mit dem 17. Oktober, dem Tag vor dem offiziellen Rücktritt von Erich Honecker, und zeigt die Veränderungen in der Berichterstattung auf.

Kalenderblatt

2. Oktober 1989 (Montag)

Während sich tags zuvor von Warschau und Prag aus die ersten Sonderzüge mit rund 6.800 DDR-Flüchtlingen auf den Weg in die Bundesrepublik machten, versammeln sich am heutigen Tag erneut 7.600 Menschen vor der Botschaft der Bundesrepublik in Prag.

Die ARD ist mit Korrespondenten vor Ort und berichtet in ihren Abendnachrichten über die Situation der DDR-Flüchtlinge in Prag, Warschau und an der österreichisch-ungarischen Grenze.

Die „Aktuelle Kamera“ reagiert auf die Berichterstattung des Westens mit einem Kommentar zur „bewussten Falschdarstellung der Ausreisegenehmigung“ aus der Prager Botschaft vom 30. September durch BRD-Politiker. Dass die Reiseregelung ein Ergebnis anstrengender Verhandlungen des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher sei, entspräche nicht der Wahrheit, so der Kommentar des DDR-Fernsehens.

Vielmehr handele es sich um eine Entscheidung der DDR-Regierung, die aus „humanitären Gründen“ getroffen worden sei.

Am Abend demonstrieren in Leipzig rund 20.000 Menschen für Reformen in der DDR. Die Sicherheitsorgane lösen die Protestaktion gewaltsam auf und verhaften zahlreiche Demonstranten. Per Telefon berichtet Bärbel Bohley, Mitbegründerin des Neuen Forums, in der ARD über die Bürgerproteste in Leipzig. Die Tagesthemen informieren über eine Mahnwache für inhaftierte DDR-Bürgerrechtler vor der Gethsemane-Kirche in Ost-Berlin.

Von diesen Ereignissen erfährt der Zuschauer der „Aktuellen Kamera“ nichts. Stattdessen wird ausführlich vom Eintreffen der Staatsgäste zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR berichtet sowie von der Übergabe der englischsprachigen Enzyklopädie „Information GDR“ durch den Verleger Robert Maxwell an Erich Honecker.

3. Oktober 1989 (Dienstag)

Hauptereignis des heutigen Tages ist die vorübergehende Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs in die CSSR durch die DDR-Regierung. Bislang konnten DDR-Bürger ohne VISA in die CSSR reisen.

In der Hauptausgabe der „Aktuellen Kamera“ wird die neue Visa-Regelung in Form eines Kommentars der Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN) begründet:

„Die zeitweilige Aussetzung des Pass- und Visafreien Verkehrs zwischen der DDR und der CSSR für Bürger der DDR erfolgte, weil ungeachtet der Bereitschaft der DDR zur Normalisierung der Lage seit Monaten eine Verleumdungskampagne geführt wird, mit dem Ziel der Manipulierung der Menschen im Sinne der Bonner Politik. Die Bonner Regierung hat ihre Botschaften in Prag und Warschau unter Bruch der Wiener Konvention über die diplomatischen Missionen zur Durchsetzung ihrer völkerrechtswidrigen, revanchistischen Anmaßungen einer Obhutspflicht für alle Deutschen missbraucht. Sie hat dabei durch die illegale Aufnahme von DDR-Bürgern bewusst und verantwortungslos eine unhaltbare Situation in ihren Botschaften herbeigeführt, die insbesondere für die dort befindlichen Kinder unerträglich war und auch die Gefahr des Ausbruchs von Seuchen heraufbeschwor.“

Die genehmigte Ausreise für die DDR-Flüchtlinge aus der BRD-Botschaft in Prag wird im Kommentar als „humanitärer Akt“ der DDR-Regierung dargestellt. Der Bundesrepublik wird im Gegenzug vorgeworfen, durch die Fortsetzung der „illegalen Aufnahme von DDR-Bürgern“ in der Prager Botschaft ein „inszeniertes Schauspiel“ zu veranstalten.

Den Großteil der DDR-Nachrichtensendung nimmt allerdings die Berichterstattung von der Festsitzung im Politbüro des Zentralkomitees der SED ein, auf der Widerstandskämpfer und Aktivisten der ersten Stunde den 40. Jahrestag der Staatsgründung feiern.

Die „ARD Tagesschau“ sendet eine halbe Stunde später als die „Aktuelle Kamera“. Sie berichtet über die oben zitierte  Meldung der „Aktuellen Kamera“ zum eingeschränkten Reiseverkehr in die CSSR und über die aktuelle Situation in Prag. Immer noch versuchen hunderte DDR-Bürger auf das Botschaftsgelände der Bundesrepublik zu gelangen und durchbrechen dabei die Absperrungen der tschechoslowakischen Polizei.

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Nach der Ausreisegenehmigung für die sich in der BRD-Botschaft in Prag befindenden DDR-Bürger, befördern Züge der Deutsche Reichsbahn etwa 7.600 Flüchtlinge über das Territorium der DDR in die BRD. Es werden zahlreiche Bahnhöfe und Gleise auf dem Transportweg gesperrt, um ein Aufspringen weiterer Menschen auf die Züge zu verhindern.

Am 4. Oktober fahren die Züge auch durch Dresden. Am Abend kommt es auf dem Dresdner Hauptbahnhof zu den schwersten Auseinandersetzungen zwischen Ausreisewilligen bzw. Demonstranten und Sicherheitskräften der DDR seit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953. Die „Aktuelle Kamera“ berichtet darüber weder an diesem Tag noch in den folgenden Wochen. Erst im Februar 1990 werden die an diesem Tag von einem Kamerateam des DDR-Fernsehens gedrehten Bilder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Stattdessen kommentiert Götz Förster in der DDR-Nachrichtensendung das „verantwortungslose Verhalten“ der Eltern, die sich mit ihren Kindern in die Prager Botschaft geflüchtet haben und bezichtigt die Bundesrepublik des Bruchs mit dem Völkerrecht. Darüber hinaus berichtet die „Aktuelle Kamera“ vom Großen Zapfenstreich der Nationalen Volksarmee und von der Ankunft internationaler Gäste zum 40. Jahrestag der DDR.   Ganz anders die Berichterstattung der ARD: Ein Situationsbericht aus Prag zeigt die Abfahrt eines Sonderzuges, der etwa 1.000 DDR-Flüchtlinge über das Hoheitsgebiet der DDR nach Hof bringen soll. Weiteren 18 DDR-Bürgern sei es gelungen, in die US-Botschaft in Berlin zu gelangen. Ein ARD-Korrespondent in Ost-Berlin berichtet vom Versuch weiterer 150 Bürger auf das Botschaftsgelände zu flüchten. Die Volkspolizei sperrt daraufhin das Gebiet weiträumig ab und nimmt ganze Familien in Gewahrsam. 

In der Nacht zum 5. Oktober erreicht der erste Sonderzug aus Prag mit 1.000 DDR-Flüchtlingen die bayerische Stadt Hof. Die ARD berichtet über Jubelszenen am Bahnhof sowie über die Weiterfahrt zum Aufnahmelager in Alsfeld. Weiterhin informiert die Tagesschau über die Abreise von DDR-Flüchtlingen aus der deutschen Botschaft in Warschau.

Während dessen gehen in Berlin die Vorbereitungen zum 40. Jahrestag der DDR ungehindert weiter. Die „Aktuelle Kamera“ informiert von der Ankunft weiterer internationaler Gäste, von der feierlichen Ehrung der Kämpfer gegen Krieg und Faschismus u.a. am Mahnmal Unter den Linden sowie über die Auszeichnungen von Persönlichkeiten und Kollektiven für hervorragende Leistungen im Staatsrat.

6. Oktober 1989 (Freitag)

Einen Tag vor dem Gründungsjubiläum der DDR beginnen im Palast der Republik die Feierlichkeiten des Zentralkomitees der SED, des Staatsrates, des Ministerrates und des Nationalrats der Nationalen Front im Beisein des Ehrengastes Michail Gorbatschow. Der Besuch des sowjetischen Staatsmannes sowie sein umfangreiches Tagesprogramm nehmen einen Großteil der Berichterstattung in der „Aktuellen Kamera“ ein. Während zahlreiche DDR-weite Demonstrationen für Reisefreiheit und Reformen von den Sicherheitskräften zum Teil brutal aufgelöst und mehrere tausend Demonstranten festgenommen werden, treffen sich am Abend rund 100.000 FDJler zum Fackelzug der Jugend in Berlin.

Neben den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag und dem Fackelzug berichten die ARD-Nachrichtensendungen „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ auch über die Versammlung von 10.000 Menschen vor dem Dresdner Hauptbahnhof, die auf den Sonderzug mit DDR-Flüchtlingen in Richtung Westen warten. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Polizei. Die Menge wird mit Schlagstöcken und Wasserwerfern zurückgedrängt. Aus Berlin schildert ein ARD-Korrespondent gescheiterte Einreiseversuche von zahlreichen Touristen, die über die Berliner Grenzen in die DDR einreisen wollten. Sie wurden von den DDR-Grenzposten abgewiesen. Parallel dazu berichtet die ARD über die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag in der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn.

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7. Oktober 1989 (Sonnabend)

Die Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ steht im Zeichen des 40. Jahrestages der Staatsgründung der DDR. In Berlin findet die Ehrenparade und in Rostock die Flottenparade der Nationalen Volksarmee statt. Im ganzen Land wird auf Volksfesten das Jubiläum begangen. Die Kameras der Reporterteams zeigen ausgewählte Fest-Veranstaltungen aus Berlin, Leipzig, Erfurt und Dresden. Am Nachmittag empfängt Erich Honecker seine Gäste im Palast der Republik. Während der Generalsekretär des ZK der SED mit Michail Gorbatschow, Todor Shiwkow und Nicolae Ceausescu auf den DDR-Geburtstag anstößt, versammeln sich einige hundert Jugendliche am Berliner Alexanderplatz, um, wie an jedem 7. des Monats, gegen die Manipulation der Kommunalwahlen vom Mai 1989 zu demonstrieren. Aus der bisherigen Losung „Wir wollen raus“ wird schnell der Ausruf „Wir bleiben hier!“. Der mittlerweile auf mehrere tausend Demonstranten angewachsene Zug zieht mit „Wir sind das Volk“- und „Gorbi, Gorbi“-Rufen friedlich am Palast der Republik vorbei und weiter in Richtung Gethsemane-Kirche. Von Oppositionellen organisiert, findet hier seit einer Woche eine Mahnwache für politische Gefangene statt.

Inzwischen beginnen Polizisten mit der Sperrung von Seitenstraßen, um ein weiteres Anwachsen des Demonstrationszuges zu verhindern. Es kommt zu Handgreiflichkeiten und zum Einsatz von Gummiknüppeln. Die Einsatzkräfte versuchen mit Gewalt den Menschenblock zu zersplittern und so die Demonstration aufzulösen. Am Abend setzt die Volkspolizei Wasserwerfer ein und gegen Mitternacht wird die Demonstration, genau wie ähnliche Aktionen in Potsdam, Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz), auch in Berlin gewaltsam aufgelöst.

Der ARD-Zuschauer nimmt vor den Fernsehbildschirmen ebenfalls an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag teil, bekommt allerdings auch die Bilder der Demonstration für mehr Freiheit und Demokratie in Ost-Berlin zu sehen.

8. Oktober 1989 (Sonntag)

Nach den Feierlichkeiten des Vortages nutzen viele ausländische Delegationen den Tag für Besuche in Betrieben der DDR. Diese Aktivitäten und Neuigkeiten aus dem Ausland und im Sport sind Bestandteil der heutigen Sendung der „Aktuellen Kamera“. Die ARD berichtet in ihren Abendnachrichten stattdessen von der gewaltsamen Auflösung einer Großdemonstration in Ost-Berlin tags zuvor und kann dies mit Bildern von prügelnden Polizisten untermauern. In Ost-Berlin wird unterdessen die Mahnwache für inhaftierte Bürgerrechtler in der Berliner Gethsemane-Kirche fortgesetzt. Im Laufe des Abends werden die ca. 3.000 aus der Kirche heraustretenden Personen von Polizeieinheiten eingekesselt und aufgefordert, sich einzeln aus diesem Kreis herauszubewegen. Die Gruppe setzt sich stattdessen gemeinsam mit Kerzen zu einem friedlichen Sitzstreik nieder. Daraufhin lösen Spezialeinheiten mit Helm, Schild und Schlagstock die Demonstration gewaltsam und brutal auf.

9. Oktober 1989 (Montag)

Die „Aktuelle Kamera erwähnt in ihrer heutigen Hauptausgabe erstmals die Demonstrationen in Leipzig. Die Demonstranten werden als Randalierer bezeichnet, die den Sozialismus ins Visier genommen haben. Die politische Meinungsäußerung der Demonstranten wird somit als kriminelle Machenschaft hingestellt, die von westdeutschen Journalisten maßgeblich unterstützt werde:

„Das ist auch der Auftrag der Reporter aus dem Westen, wenn sie sich in unserem Berlin zum Schrittmacher antisozialistischer Attacken machen, Aktionen direkt dirigieren. Hahne vom ZDF und andere waren ständig mittendrin. Wenn die Kameras „rot“ zeigten, wurden die vorgebeteten Parolen nachgebrüllt.“

„Es steht fest, dass die Randalierer, zumal ferngesteuert, hier niemanden repräsentieren, allenfalls sich selbst; insofern werden sie keine Chance haben.“

Zur Bekräftigung dieser letzten Aussage lässt das DDR-Fernsehen empörte Bürger aus Potsdam, Arnstadt und Leipzig zu Wort kommen, die diese „antisozialistischen Ausschreitungen“ und das „provokante Vorgehen der Randalierer“ verurteilen.

„Tagesschau“ und „Tagesthemen“ berichten von den Aktivitäten oppositioneller Gruppen in der DDR sowie von der Sitzblockade vor der Gethsemane-Kirche am Vortag.

Während beide Sendeanstalten, ARD und DDR-Fernsehen, ihre Zuschauer über die tagesaktuellen Ereignisse informieren, versammeln sich in Leipzig rund 70.000 Menschen zur allwöchentlichen Montagsdemonstration. Von der Nikolaikirche aus ziehen die Demonstranten mit „Wir sind das Volk“ und „Keine Gewalt!“-Rufen durch die Innenstadt. An diesem Abend halten sich die Sicherheitskräfte aufgrund der unerwartet hohen Zahl der Demonstranten zurück. Auch in anderen Großstädten der DDR verlaufen die Montagsdemos überwiegend friedlich.

In den folgenden Tagen geht die „Aktuelle Kamera dazu über, im gewohnten Stil über innen- und außenpolitische Themen zu berichten. Hervorzuheben ist eine 10-minütige Erklärung des Politbüros der SED, welche in vollem Wortlaut am 11. Oktober 1989 in der „Aktuellen Kamera“ verlesen wurde: Das Politbüro bedankt sich für die Vorbereitungen und Durchführungen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR und kündigt die Einberufung des 12. Parteitages der SED an. Ziele der SED seien, dass „ … die wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse jedes Einzelnen entsprechend seinen Leistungen immer besser erfüllt werden können. […] DDR, Sozialismus und Frieden, Demokratie und Freiheit gehören für immer zusammen. Nichts und niemand kann uns davon abbringen.“

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Die Wende in der Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“

Die Umbruchphase im Herbst 1989 schlägt sich parallel zu den politischen Ereignissen im Land auch in der Berichterstattung des DDR-Fernsehens nieder. In der Woche vom 17. bis zum 24. Oktober werden die Veränderungen für den Zuschauer deutlich. Im Anschluss an den Rücktritt von Erich Honecker wird die Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der SED aufgelöst. Die „Aktuelle Kamera“ kann ab diesem Zeitpunkt zunehmend frei und objektiv berichten.

17. Oktober 1989 (Dienstag)

Die heutige Berichterstattung der „Aktuellen Kamera beginnt mit Statements von Günther Maleuda und Manfred Gerlach, beides Vorsitzende von Blockparteien (DBD – Demokratische Bauernpartei Deutschlands und LDPD – Liberal-Demokratische Partei Deutschlands). Während Maleuda auf die zukünftige Zusammenarbeit der LDPD mit der SED eingeht, spricht sich Manfred Gerlach für den Dialog aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte und für schnelle spürbare Veränderungen aus.

   

Es wird über die Diskussion von ca. 4.000 Studenten an der Berliner Humboldt-Universität berichtet, zu der die Leitung der FDJ (Freie Deutschen Jugend) eingeladen hatte. Die Studenten diskutieren über Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR und über die Demokratisierung der studentischen Vertretungen an den Berliner Hochschulen. Der Reporter Michael Schmidt greift verschiedene Meinungen der Studentenschaft auf.

 

Den größten Teil der Nachrichtensendung an diesem Tag nimmt das Interview mit Generalstaatsanwalt Günter Wendland ein. Er bezieht zu den mutmaßlichen Misshandlungen von friedlichen Demonstrationsteilnehmern durch Berliner Volkspolizisten Stellung und verspricht die Überprüfung jeder einzelnen Anzeige von Bürgern gegen die Polizei. Seiner Ansicht nach ging die Gewalt allerdings nicht von der Polizei aus, mit der Begründung „Gewalt wird bei uns nicht geduldet“.

Am vorherigen Tag, dem 16. Oktober 1989, fand in Leipzig die allwöchentliche Montagsdemonstration statt. Die „Aktuelle Kamera“ berichtet zwar nicht wie die Kollegen der ARD in einem Bildbeitrag über dieses Ereignis, jedoch kommentiert Lutz Herden die Leipziger Demonstration. In seinem Kommentar geht er zunächst auf die 40-jährige harte Arbeit von Millionen DDR-Bürgern für die sozialistische Sache in diesem Land ein. Im Anschluss wirft er den gestrigen Demonstranten vor, „dieses Land aus den Angeln“ heben zu wollen. Gerade diese Leute sollten bedenken, „dass es andere gibt, vorzugsweise außerhalb unserer Grenzen, die dafür auch seit 40 Jahren keine Mühe scheuen“.

Herden gesteht ein, dass die Grundgedanken, die viele Bürger der DDR bewegen, auf elementare Probleme des Landes zurückgehen und fragt sich, wie diese Gesellschaft künftig gehandhabt werden solle,„damit sie jeder als lebenswert und unentbehrlich empfindet. Insofern nehmen wir als Journalisten den gestrigen Tag als Signal, die begonnene Aussprache noch tiefgründiger, entschlossener und Ergebnisorientierter zu führen. Keine Zeit, keine Idee, keinen Vorschlag verstreichen zu lassen, wenn sie eigenem Kopf und Denken entsprungen sind und ohne fremdes Hereingerede entwickelt wurden. Dabei sind Geduld und Verständnis unumgängliche Tugenden, vor allem aber Besonnenheit und die Überzeugung, dieses Gespräch wird sich nicht auf der Straße führen lassen. Die Türen sind offen. Wer nicht hindurch geht wird sich die Fragen gefallen lassen müssen, ob er es ehrlich meint; ehrlich mit dieser Gesellschaft, diesem Land, seinen Menschen, ohne die es nicht existieren würde."

Die Meldung des Tages in den Nachrichtensendungen von DDR-Fernsehen und ARD ist der Rücktritt von Erich Honecker und die Wahl des neuen Generalsekretärs des ZK der SED: Egon Krenz. Während die „Aktuelle Kamera“ in einem kurzen Beitrag über den Wechsel berichtet und Egon Krenz in einem kurzen, persönlich gehaltenen Interview zu Wort kommen lässt, nimmt die Berichterstattung zu diesem Ereignis in der ARD größeren Raum ein. Die „Tagesschau“ beginnt mit einem Bericht und einem Kommentar über den Machtwechsel in der DDR, gefolgt von einem Porträt zur politischen Karriere Erich Honeckers. Des Weiteren wird in den „Tagesthemen“ die ungewöhnliche und lockere Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ zum Machtwechsel und zur Wahl von Egon Krenz hervorgehoben.

Der weitere Verlauf der „Aktuellen Kamera“ beschränkt sich auf Meldungen aus aller Welt.

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19. Oktober 1989 (Donnerstag)

Am vorherigen Tag wurde der ZK-Sekretär Joachim Herrmann, seit 1978 zuständig für Agitation und Propaganda, von seinen Parteiämtern entbunden. Die SED-Führung löst die Agitationskommission und die Abteilung Agitation und Propaganda im ZK auf. Damit endet die zentral gesteuerte ideologische Ausrichtung der Massenmedien in der DDR.

In der Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ wird dies in den nächsten Tagen allmählich sichtbar.

In der heutigen Sendung wird zunächst ausführlich über den Besuch von Egon Krenz im VEB Werkzeugmaschinenkombinat "7. Oktober" Berlin berichtet. Er spricht mit den dort beschäftigten Arbeitern über die aktuellen Probleme des Landes und ihres Betriebes. Krenz trifft sich außerdem mit Vertretern der Evangelischen Kirche auf Schloss Hubertusstock zur Fortsetzung des Dialogs mit der Kirche in der DDR. Hierauf folgt ein Kommentar zur gegenwärtigen Situation nach der Wahl von Egon Krenz zum Generalsekretär. Mit den Worten „Eine Wende werden wir einleiten“ geht Reiner Haupt kurz auf die gestrige Rede von Egon Krenz im DDR-Fernsehen ein.

Haupt kritisiert die in seinen Augen vorverurteilende Berichterstattung des West-Fernsehens wie folgt:

„Egon Krenz hatte seine Rede noch nicht begonnen, da wurde in eiligen Sondersendungen der BRD-Medien bereits beurteilt, vorgeurteilt also. Der Wechsel müsse nicht viel bedeuten, negatives Stimmungsbild, negative Einschätzung. Es lohnt nicht, weiter in Einzelheiten zu gehen. Sollen sie Gift und Galle spucken auf ihren Sendern! Ich meine, wir sollten den Klassengegner nicht tadeln, dass er sich wie ein Klassengegner benimmt. Ich will mir und uns aber energisch verbitten dürfen, dass uns mit der überheblichen Manier des pfeiferauchenden guten Onkels Ratschläge erteilt werden. Die von gestern Abend liefen auf einen Nenner gebracht darauf hinaus, den Sozialismus in der DDR zu beseitigen.“

Haupt beendet seinen Kommentar mit der abschließenden Einschätzung, dass so „Wende nicht gemeint [ist]. Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition.“

20. Oktober 1989 (Freitag)

Die heutige Hauptausgabe der „Aktuellen Kamera“ beginnt mit einem Bericht über einen „provokatorischen Anschlag“ auf die Staatsgrenze der DDR. Fünf junge Männer aus Westberlin hatten sich in der Nacht vom Reichstagsufer der Berliner Mauer genähert, sie erklettert und von dort gezielt Pflastersteine auf die Grenzsoldaten geworfen. Der Beitrag zeigt den Anschlagsort sowie die Pflastersteine und lässt die betroffenen Grenzsoldaten zu Wort kommen. Weiterhin wird über innenpolitische Ereignisse, wie dem Besuch des FDP-Politikers Wolfgang Mischnick in Dresden, und außenpolitische Neuigkeiten berichtet.

In einer Nachrichten-Verlese informiert das DDR-Fernsehen über die Rückkehr der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“. Diese war im November 1988 durch Erich Honecker von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Am Ende der Sendung präsentiert die „Aktuelle Kamera“ ein Interview mit dem Sprecher des DDR-Außenministeriums, Wolfgang Meyer, zum „humanitären Akt der DDR-Regierung“, Bürger der DDR in die BRD ausreisen zu lassen. Jeder Bürger habe das Recht, bei der zuständigen Abteilung für Inneres einen Antrag auf ständige Ausreise zu stellen.

Dieser würde in großzügiger Weise entschieden. Umgekehrt könne sich jeder, der den Wunsch habe, in die DDR zurückzukehren, an die diplomatischen Vertretungen der DDR im Ausland wenden.

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21. Oktober 1989 (Sonnabend)

Am heutigen Tag formiert sich in Berlin eine knapp 2 Kilometer lange Menschenkette vom Palast der Republik bis zum Polizeipräsidium. Sie fordern die Freilassung aller am 7./8. Oktober inhaftierten Demonstranten. Die „Aktuelle Kamera“ berichtet von der Menschenkette im Zusammenhang mit den Stadtgesprächen von Politbüromitglied Günter Schabowski und Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack vor der Volkskammer. Sie diskutieren mit den Bürgern über Presse- und Versammlungsfreiheit sowie über neue Reiseregelungen in der DDR. Günter Schabowski appelliert daran, dass in „dieser hoffnungsvollen Phase“ nicht der Weg durch „unkontrollierte Handlungen“ verbaut wird.

Mit einem Kommentar von Götz Förster reagiert die „Aktuelle Kamera“ auf einen Bericht der „Heute“-Sendung des ZDF über Misshandlungen von festgenommenen Frauen:

„ZDF-Korrespondent Michael Schmitz behauptete ohne einen Hauch von Beweis, dass die Volkspolizei Demonstranten gezwungen habe, auch Frauen, sich zu entkleiden, um ihre Geschlechtsteile schwer zu misshandeln. Das Ministerium des Innern hat sofort dementiert und diese Behauptung unter Protest zurückgewiesen. Wer so unter die Gürtellinie geht, kann nichts anderes im Sinn haben, als Menschen zu verhetzen und Emotionen anzuheizen, die einen sachlichen konstruktiven Dialog erschweren oder gar unmöglich machen sollen."

In den folgenden Tagen sollte sich jedoch aufgrund der Aussagen einer misshandelten Frau herausstellen, dass der Beitrag des ZDF durchaus der Wahrheit entsprach.

Förster äußert sich in seinem Kommentar noch zu einer Aussage des CDU-Bundestagsabgeordneten Alfred Dregger. Laut Dregger wäre die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft „Verrat an den Menschen in Mitteldeutschland“. Förster bemerkt dazu:

„Und was ist wohl Ostdeutschland, wenn wir weder West- noch Ost-, sondern Mitteldeutsche sind. Ich will es kurz machen, selbst jetzt, da wir über den Dialog zu Reformen kommen wollen, kann es die andere Seite nicht lassen, uns in Obhut zu nehmen, um ihr revanchistisches Süppchen zu kochen. Die DDR nicht DDR zu nennen, ist schon schlimm genug; uns zu Mitteldeutschen zu erklären und damit die Grenzen von 1937 einzuklagen, ist in der Tat Verrat, der nicht nur uns, sondern Polen und Sowjetbürger betrifft.“

22. Oktober 1989 (Sonntag)

In den heutigen Nachrichtensendungen von DDR-Fernsehen und ARD wird über den ersten Dialog im Leipziger Gewandhaus berichtet, wobei sich die „Tagesschau“ der Bilder der „Aktuellen Kamera“ bedient. Am Morgen hatten sich rund 500 Leipziger unter der Leitung von Mitinitiator Kurt Masur zu einer öffentlichen Aussprache am Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) getroffen.

In einem Kommentar äußert sich die Journalistin Dagmar Mielke zu den im gesamten Land geführten Diskussionen zur gegenwärtigen Situation. Sie merkt an, dass es den Journalisten bei der Fülle der geführten Gespräche nicht möglich sei, immer vor Ort zu sein. Jedoch werde man „sich daran gewöhnen müssen, dass auch wir, die Journalisten, unsere Sicht in die Debatte einbringen“. Anschließend fordert sie, dass dem gemeinsamen Streit ein gemeinsames Handeln folgen muss. „Stillstand wird es nicht geben.“

Weiterhin hervorzuheben ist der Beitrag über eine Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums, in der behauptet wurde, dass DDR-Bürger langjährige Haftstrafen oder anderweitige Repressalien bei einer Rückkehr von der Bundesrepublik in die DDR zu erwarten hätten. Auslandskorrespondent Lutz Renner dementiert diese Behauptung.

23. Oktober 1989 (Montag)

An den heutigen Montagsdemonstrationen nehmen allein in Leipzig über 300.000 Menschen teil. Dies ist die größte Protestkundgebung in der Geschichte der DDR. Erstmals berichtet auch die „Aktuelle Kamera“ in Bildern über die Demonstrationen in Leipzig und Schwerin. Die ARD betont die offene Berichterstattung der „Aktuellen Kamera“ über die Proteste in der DDR. Allerdings wird das Verschweigen der oppositionellen Forderungen in der DDR-Nachrichtensendung kritisiert.

In der evangelischen Kirchengemeinde am Berliner Fennpfuhl findet an diesem Tag eine Pressekonferenz oppositioneller Gruppen statt, bei der eine Dokumentation mit Erlebnisberichten zu den Polizeieinsätzen vom 7./8. Oktober an den Vize-Generalstaatsanwalt von Berlin, Klaus Voß, übergeben wird. In der „Aktuellen Kamera“ verspricht Voß alle Materialien zu prüfen und die Öffentlichkeit zu informieren, sobald Ergebnisse vorliegen.

24. Oktober 1989 (Dienstag)

Die heutige Hauptausgabe der „Aktuellen Kamera“ wird beherrscht von der 10. Tagung der 9. Volkskammer und der dort stattgefundenen Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Neben Bildern der Abstimmung und des anschließenden Amtseides von Krenz sowie eines Ausschnittes von Krenz’ Antrittsrede, kommen auch die Fraktionssprecher der Blockparteien in kurzen Interviews zu Wort.

Dass es im Vorfeld der Wahl Proteste von 12.000 Bürgern gegen eine Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden in Berlin gegeben hatte, erfährt der Zuschauer nur in einer Nachrichten-Verlese mit eingeblendetem Foto der Demonstranten. Die ARD ergänzt diese Nachricht mit Nachtaufnahmen der Anti-Krenz-Demonstration in Berlin und einer Passantenbefragung zur Wahl des neuen Staatsoberhauptes der DDR.

Fazit

Die Hauptnachrichten der ARD, „Tagesschau“ und „Tagesthemen“, berichten von Anfang an über die Ereignisse im Herbst 1989 in der DDR und vor allem auch in Prag. Demonstrationsbilder sieht man auch in der ARD erst ab dem 7. Oktober, dem Vorabend des 40. Jahrestags der Gründung der DDR. Während die ARD über die zunehmenden Protestaktionen in der DDR informiert, erfahren die Zuschauer der „Aktuellen Kamera“ nichts von den Demonstrationen. Es wird stattdessen ausführlich über die Vorbereitungen und die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR berichtet. Einzig am 9. Oktober gibt es einen Kommentar zu den Demonstrationen, in dem die Teilnehmer jedoch abwertend als Randalierer betitelt werden, denen unterstellt wird, von westlichen Reportern angestachelt worden zu sein. Statements zu den „antisozialistischen Ausschreitungen“ von DDR-Bürgern sollen die Empörung darüber in der DDR-Bevölkerung belegen. Auch in den folgenden Tagen gibt es von oben gelenkte Wortmeldungen und Kommentare zu den Demonstrationen.

Ab dem 19. Oktober, dem Tag der Auflösung der Abteilung Agitation im ZK der SED, berichten DDR-Fernsehen und ARD größtenteils über dieselben Themen, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Hauptausgabe der „Aktuellen Kamera“ wird ab diesem Tag informativer, weniger belehrend und aktueller. Erstmals werden andere politische Meinungen und Meinungsäußerungen von Oppositionellen im Fernsehen zugelassen. Die Entwicklung der „Aktuellen Kamera“ vom Propaganda-Instrument der SED hin zu einer zunehmend objektiven Nachrichtensendung schlägt sich auch in den Sehbeteiligungszahlen nieder. Schalteten am 1. Oktober 1989 nur 10,4 Prozent der Fernsehzuschauer die „Aktuelle Kamera“ ein, waren es zum Ende des Monats bereits mehr als viermal soviel (46,8 Prozent). In den folgenden Wochen und Monaten sollte sich die Berichterstattung und das Erscheinungsbild der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, auch mit der am 30. Oktober gestarteten neuen Spätausgabe „AK zwo“ weiter in Richtung einer informativen und objektiv berichtenden Nachrichtensendung entwickeln.

(dh)