1989 - 1990 Wende-Zeiten

Politische Aktionen in der DDR 1989/90

Im Herbst 1989 erhoben DDR-Bürger in Massendemonstrationen ihre Stimme gegen die Führung des Landes. Bürgerbewegungen, die neu entstehenden oppositionellen Parteien, Künstler und Wissenschaftler engagierten sich während der friedlichen Revolution in der DDR durch oft Aufsehen erregende politische Aktionen. Im Jahr 1990 wurden die sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche zum Thema und zahlreiche gesellschaftliche Gruppen bekundeten ihre Befürchtungen und Forderungen in öffentlichen Aktionen.

Im September 1989 kehrten täglich tausende DDR-Bürger über Ungarn und die Botschaften der BRD in Prag und Warschau ihrem Heimatland den Rücken. In den größeren Städten der DDR fanden die Demonstrationen immer stärkeren Zulauf und Bürgerbewegungen begannen, öffentlich Forderungen zu stellen. Auch Künstler und Wissenschaftler initiierten in der DDR politischen Aktionen.

Am 12. Oktober erklärten die Führungsgremien der Akademie der Künste und des Kulturbundes der DDR, dass ein öffentliches und offenes Gespräch notwendig sei und brachten ihre Besorgnis über die aktuelle Lage zum Ausdruck. Zwar versprach auch die DDR-Regierung in einer Erklärung des Politbüros des Zentralkomitees der SED, dass in Zukunft Probleme „im sachlichen Dialog und im vertrauensvollen politischen Miteinander“ gelöst werden sollten, aber Regimekritiker wurden weiterhin verfolgt.

Am 7. Oktober 1989 beging die DDR den 40. Jahrestag ihres Bestehens. In mehreren Städten wurden an diesem Tag Protestdemonstrationen von Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst. Im DDR-Fernsehen wurde dieser Widerstand wie folgt kommentiert:

„Das ist auch der Auftrag der Reporter aus dem Westen, wenn sie sich in unserem Berlin zum Schrittmacher antisozialistischer Attacken machen, ja Aktionen direkt dirigieren. Hahne vom ZDF und andere waren ständig mittendrin. Wenn die Kameras rot zeigten, wurden die vorgebeteten Parolen nachgebrüllt. Und manche schrieen ‚Keine Gewalt!’, um Sekunden später Pflastersteine zu schleudern.“

Oppositionelle befürchteten daraufhin, dass es bei der am 9. Oktober 1989 in Leipzig geplanten Demonstration zu schweren Übergriffen der Polizei kommen würde. Sie erwarteten eine „chinesische Lösung“. Spontan riefen am Nachmittag des 9. Oktober Kurt Meier, Jochen Pommert und Roland Wötzel (Sekretäre der SED-Bezirksleitung), der Chefdirigent des Gewandhauses Kurt Masur, der Pfarrer Peter Zimmermann und der Kabarettist Bernd Lutz Lange in einem Appell beide Seiten zur Besonnenheit und zum Dialog auf. Entgegen allen Befürchtungen zogen sich Volkspolizei und Kampfgruppen zurück und 70.000 Menschen konnten friedlich demonstrieren. Am 22. Oktober 1989 luden diese sechs Leipziger Persönlichkeiten 500 Einwohner zu einer öffentlichen Aussprache in das Gewandhaus ein und verabredeten, sich regelmäßig jeden Sonntag zu einem Dialog zu treffen.

Solche Diskussionen zwischen politisch Verantwortlichen und Bürgern fanden daraufhin auch in anderen Städten der DDR statt, so z.B. am 29. Oktober und 5. November 1989. In mehrstündigen Gesprächen wurde versucht, vielfältige Fragen zur Lage in der DDR, zu den wirtschaftlichen Problemen, zur Rolle der SED, zu gesellschaftspolitischen Reformen oder zu Übergriffen der Sicherheitskräfte, zu beantworten. Bereits am 24. Oktober fand eine Diskussion von Prominenten unter dem Motto „Die DDR wie ich sie träume“ im Haus der jungen Talente in Berlin statt. Trotz der teilweise sehr kritischen Diskussionsbeiträge wurde diese Veranstaltung im DDR-Fernsehen übertragen.

Am 28. Oktober 1989 trafen sich 70 Künstler und Wissenschaftler, darunter die Schriftsteller Christa Wolf, Stefan Heym und Heiner Müller, unter dem Motto „Wider den Schlaf der Vernunft“ in der Berliner Erlöserkirche, um über die Vorgänge während der Demonstrationen Anfang Oktober 1989 zu diskutieren und ihre Solidarität mit den Betroffenen zum Ausdruck zu bringen.

Nach einer Großdemonstration für die Durchsetzung von Grundrechten in der DDR am 4. November 1989 in Berlin fand eine Kundgebung auf dem Alexanderplatz statt, auf der mehrere Künstler, unter anderem die Schauspieler Ulrich Mühe, Jan Josef Liefers und Steffie Spira, auftraten und eine rechtsstaatliche Erneuerung der DDR forderten. Auch in Dresden wurde am 19. November eine solche von Kunstschaffenden und Journalisten organisierte Kundgebung veranstaltet.

Aber trotz der politischen Umbrüche verließen weiterhin viele DDR-Bürger das Land. Am Abend des 8. November 1989 verlas die Schriftstellerin Christa Wolf einen von Künstlern und Bürgerinitiativen verfassten Aufruf an alle Ausreisewilligen, in der DDR zu bleiben. Einen Tag später fiel in Berlin die Mauer.

Am 28. November 1989 veröffentlichte Bundeskanzler Helmut Kohl den so genannten Zehn-Punkte-Plan zum schrittweisen Ausbau der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR mit dem Ziel der Wiedervereinigung. Noch am gleichen Abend verlas der Schriftsteller Stefan Heym den Appell „Für unser Land“. Zu den Initiatoren gehörten wiederum Künstler und Wissenschaftler der DDR. In diesem Appell hieß es:

„Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller, und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind. Oder wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik Deutschland vereinnahmt wird.“

In den folgenden Monaten kam auf vielen Ebenen der Demokratisierungsprozess in der DDR in Gang. Der Fokus der politschen Auseinandersetzungen richtete sich nun auf die neue politische, wirtschaftliche und soziale Situation des Landes. Am 1. Juli 1990 trat die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Die Vereinigung beider deutscher Staaten wurde vorbereitet und am 23. August 1990 von der ersten demokratisch gewählten Volkskammer der DDR beschlossen.   Mit weiteren Demonstrationen und auch politischen Aktionen manifestierten verschiedenste Interessengruppen ihre Forderungen. Anlass vieler Proteste waren die Folgen der sozialen Umbrüche und der ungewissen wirtschaftlichen Zukunft.

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Politische Aktionen 1990

Im Mai 1990 starteten in der Berliner Gethsemanekirche prominente Künstler eine Solidaritätsaktion für Künstler, die von den wirtschaftlichen Umbrüchen betroffen waren. Drei Wochen später veranstalteten Berliner Künstler einen Aktionstag auf dem Alexanderplatz, der auf die Schließung vieler Kultureinrichtungen in der Stadt aufmerksam machen sollte. Als der Berliner Magistrat am 13. Juni 1990 beschloss, Kunst- und Kulturschaffenden in kommunalen Einrichtungen zu kündigen, protestierten Künstler gegen diese Entschluss im Roten Rathaus. Unter den Betroffenen war zum Beispiel der damalige Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, Albert Hetterle.

Auch andere Berufsgruppen richteten die öffentliche Aufmerksamkeit durch politische Aktionen auf die schwierigen wirtschaftlichen Umstände. So veranstaltete die Gewerkschaft Textil – Bekleidung – Leder im Mai 1990 eine Verkaufsaktion auf dem Alexanderplatz in Berlin, um auf die schlechte Auftragslage der Textilbetriebe in der DDR hinzuweisen.

Viele Bergarbeiter fürchteten um ihre soziale Absicherung nach der drohenden oder bereits erfolgten Schließung von Bergwerken. In mehreren Orten der DDR versuchten im September 1990 die Bergleute durch Hungerstreiks und Besetzung der Betriebe eine bessere Sozialversorgung zu erkämpfen.

Landwirte organisierten Kundgebungen und Straßenblockaden, um Druck auf die DDR-Regierung auszuüben. Sie forderten bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und sorgten sich um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. Im Juli 1990 schütteten sie während einer Volkskammertagung Milch auf die Straße vor dem Palast der Republik in Berlin.

Die Studierenden waren ebenfalls von den politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen in der DDR betroffen. Sie fürchteten um ihre finanzielle Situation nach der Währungsunion und forderten eine Erhöhung des Grundstipendiums. Es machte sich zudem Unsicherheit über die künftige Arbeitssituation mit den bisherigen Studienzielen breit. Eine wesentliche Forderung der Studenten war, die bestehende Notlage der Unterbringung in Wohnheimen zu erkennen und zu beseitigen. Studenten veranstalteten unter anderem im Mai 1990 einen Aktionstag in Leipzig und protestierten im Juni 1990 durch das Verteilen von Flugblättern vor dem Palast der Republik während einer Volkskammertagung.

Neben den Aktionen, die sich mit der politischen und wirtschaftlichen Situation in der DDR auseinandersetzten, war ein zentrales Anliegen einiger DDR-Bürger, das vergangene Unrecht in der SED-Diktatur sichtbar zu machen. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) war das wichtigste Repressionsinstrument der SED-Führung. Als in der Bevölkerung bekannt wurde, dass  das MfS Beweismaterial und Akten vernichtete, drangen am 4. Dezember 1989 Oppositionelle in die Bezirksverwaltungen des Ministeriums für Staatssicherheit in Leipzig, Erfurt, Rostock und Suhl ein, um die Vernichtung von Unterlagen zu verhindern und Beweismaterial zu sichern.

Am 15. Januar 1990 stürmten Demonstranten die Zentrale des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin. Die Besetzer forderten die Herausgabe der Akten und die endgültige Auflösung des Amtes. Am Abend desselben Tages übernahmen Mitglieder des Neuen Forums die Kontrolle über das Gebäude.

Anfang Dezember 1989 riefen sich auch die Häftlinge in mehreren Strafanstalten der DDR durch einen Streik ins öffentliche Bewusstsein. Sie forderten bessere Haftbedingungen und eine Amnestie für die aus politischen Gründen Inhaftierten. Im Januar 1990 verbreitete der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) die Meldung, dass Häftlinge der Strafanstalt Bautzen einen Ausbruch planten. Daraufhin verlangte ein Sprecher der betroffenen Gefangenen ein Dementi dieser Nachricht:

„In sämtlichen Medien wurde durch ADN verbreitet, dass in der Strafvollzugseinrichtung Bautzen I ein gewaltsamer Ausbruch durch die Strafgefangenen geplant war. Des Weiteren wurde verbreitet, dass sich in dieser Einrichtung nur noch Gewaltverbrecher und Sittlichkeitsverbrecher sowie Rückfalltäter befinden. Diese Angaben sind rundweg erlogen und entsprechen auf keiner Basis der Realität. Die Strafgefangenen fühlen sich auf das Tiefste in ihrer menschlichen Würde verletzt. Wir fordern eine sofortige Dementierung und Richtigstellung der Fakten durch ADN im Fernsehen und Rundfunk der DDR.“

Im September 1990 versuchten die Inhaftierten einiger DDR-Gefängnisse durch Hungerstreiks und Besetzung der Dächer von Haftanstalten erneut, eine Überprüfung ihrer Urteile zu erwirken.

Weitere politische Aktionen richteten sich gegen die Umweltverschmutzung in der DDR. Die Gefahr von Bodenkontaminierungen durch Mülldeponien rief den Protest der Bürger hervor. So blockierten Anwohner im Januar 1990 die Mülldeponie Schöneiche bei Berlin, um weitere Sondermülltransporte zu verhindern. Am 13. September 1990 verschlossen Umweltaktivisten die Eingänge der Mülldeponie Glindow, um auf die Umweltgefahren, die von der Deponie ausgingen, aufmerksam zu machen.

In Berlin besetzten im April 1990 Umweltschützer den Potsdamer Platz. Sie forderten einen ökologischen Stadtumbau statt der geplanten Neugestaltung der Stadt. Trotz des entstehenden Umweltbewusstseins in der DDR stießen die vielfältigen Aktionen während des Umwelttages in Berlin am 5. Juni 1990 nur auf geringe Resonanz in der Bevölkerung.

Das politische und gesellschaftliche Engagement der DDR-Bürger in den Jahren 1989 und 1990 in Form von unterschiedlichen Aktionen und Protesten war ein wesentlicher Bestandteil des Demokratisierungsprozesses in der DDR. Dazu zählten nicht nur die Aufsehen erregenden Aktionen und publikumswirksamen Appelle, sondern auch zahlreiche kleinere Aktionen, die in den Medien nicht immer Berücksichtigung fanden.

Literatur

Bahrmann, Hannes; Links, Christoph: Chronik der Wende. Die DDR zwischen 7. Oktober und 18. Dezember 1989, Berlin 1994.

Bahrmann, Hannes; Links, Christoph: Chronik der Wende 2. Stationen der Einheit. Die letzten Monate der DDR, Berlin 1995.

Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Berlin 1996.

Hertle, Hans-Hermann et al. (Hg.): Mauerbau und Mauerfall. Ursachen – Verlauf – Auswirkungen, Berlin 2002.

Nitsche, Sybille; Taffelt, Antje: Das wunderbare Jahr der Anarchie. Von der Kraft zivilen Ungehorsams 1989/90, Berlin 2004.

Wyden, Peter: Die Mauer war unser Schicksal. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert. Mit einer Mauer-Chronik von Hartwig Bögenholz, Berlin 1995.

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