1989 - 1990 Wende-Zeiten

Die Volkskammer der DDR im Wandel

Die Volkskammer, das Parlament der DDR, war bis zum Mauerfall eine Institution ohne bedeutende Kompetenzen und ohne echte politische Einflussmöglichkeiten. Das änderte sich erst mit dem Rücktritt Erich Honeckers und dem nachfolgenden Austausch weiterer Funktionsträger. Die Volkskammer der DDR vollzog einen tief greifenden Wandel. 1990 formierte sich die erste demokratisch gewählte Volkskammer in der Geschichte der DDR.

Die Volkskammer war das Parlament der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Laut Verfassung sollte sie das oberste Machtorgan des Staates sein. Faktisch wurden die wichtigen politischen Entscheidungen jedoch außerhalb des Hauses getroffen.

„Über die Grundfragen der Staatspolitik“ entschied die Volkskammer, wie wortwörtlich in den Verfassungen von 1968 und 1974 festgeschrieben war (Artikel 48), weitgehend nicht. Die eigentliche Macht lag bei den Führungsorganen der SED. Die DDR war somit eine Parteidiktatur. Der Anspruch der Volkskammer aus den Anfangsjahren der DDR, eine dem Parlamentarismus überlegene Vertretungskörperschaft neuen Typs zu sein, spiegelte sich in der Realpolitik nicht wider. Im Tagesgeschäft entwickelte sich das „oberste Machtorgan“ der DDR zu einer Institution ohne bedeutende Kompetenzen und ohne echte politische Einflussmöglichkeiten.

Im Jahr 1968 wurde die „Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ (Artikel 1) in der Verfassung der DDR verankert. Die Souveränität des Volkes sollte auf der „Grundlage des demokratischen Zentralismus“ ein tragendes Prinzip des Staatsaufbaus sein (Art. 47). In der Realität entwickelte sich der Zentralismus zu Lasten der Demokratie.

Zwar oblag der Volkskammer als einziger Institution die Verfassungs- und Gesetzgebung in der DDR, doch wurden die Bestimmungen regelmäßig vor den Plenartagungen vom Politbüro der SED entschieden. Auch ihre Wahlfunktion konnte die Volkskammer nicht frei ausüben. Bei Ämterbesetzungen wie den Wahlen von Präsidium, Staats- und Ministerratsmitgliedern und dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates oblag die Entscheidung der SED-Führung. Die Namen wurden von den Abgeordneten ohne Diskussionen abgenickt.   Die einzige Abstimmung bei der die Volkskammer vor dem Herbst 1989 nicht einmütig entschied, war 1972 der Beschluss über die Einführung der Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen. Es lagen 14 Gegenstimmen von CDU-Abgeordneten vor und es gab acht Enthaltungen.
Die abnehmende realpolitische Bedeutung der Volkskammer lässt sich an den Tagungen des Plenums ablesen. Traten die Abgeordneten in der vierjährigen 1. Wahlperiode noch 50 Mal zusammen, tagten sie in den fünf Jahren der 8. Wahlperiode nur noch zwölf Mal.   Die Wahlen zur Volkskammer fanden seit 1950 auf Grundlage von Einheitslisten der Nationalen Front, dem Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisation der DDR, statt. In allen Volkskammerwahlen bis 1986 gaben die SED-Oberen das Wahlergebnis stets mit über 99 Prozent Ja-Stimmen an. Um sich nicht verdächtig zu machen, wählten die DDR-Bürger kaum noch in geheimer Abstimmung in einer Kabine. Der eigentliche Wahlakt war bereits mit dem Einwerfen eines Stimmzettels in die Wahlurne vollzogen. Im Volksmund wurde das Wählen schlicht als „Zettelfalten“ bezeichnet.

Die Volkskammer 1989

Ihren tief greifendsten Wandel vollzog die Volkskammer im Herbst 1989 vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen in der DDR. 

Am 18. Oktober traten Erich Honecker, Günter Mittag sowie der ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda Joachim Herrmann auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED zurück. Sechs Tage später wurde Erich Honecker auf der 10. Tagung der 9. Volkskammer der DDR als Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR einstimmig abberufen. Volkskammerpräsident Horst Sindermann würdigte zu diesem Zeitpunkt den Politiker noch mit den Worten:

"Wir lassen die menschliche Größe des Revolutionärs und die kommunistische Anständigkeit unseres Genossen Honecker nicht antasten. Wir wünschen Genossen Erich Honecker noch viel Gesundheit und betrachten ihn weiter als unseren Mitstreiter."

Einige Wochen später war die Zeit auch über Horst Sindermann hinweggegangen. Bereits bei der Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates am selben 24. Oktober folgten die Abgeordneten nicht mehr dem Gebot eines einheitlichen Abstimmungsverhaltens. Krenz wurde von der Volkskammer nur mit Gegenstimmen gewählt.   Nachdem der Ministerrat der DDR mit Willi Stoph an der Spitze am 7. November den Rücktritt erklärt hatte und am Tag darauf auch das alte Politbüro die Konsequenzen zog, wurde am 13. November eine Sitzung der Volkskammer zur Lage in der DDR einberufen. Der Volkskammer-Abgeordnete Hans Jendretzky verkündete die Rücktritte von Volkskammerpräsident Horst Sindermann, von dessen Stellvertreter Gerald Götting und allen Präsidiumsmitgliedern der Volkskammer. Günther Maleuda wurde zum neuen Präsidenten der Volkskammer gewählt und Hans Modrow am gleichen Tag zum neuen Vorsitzenden des Ministerrates der DDR berufen.
Der ehemalige Vorsitzende des Ministerrats Willi Stoph und der einstige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke stellten sich auf derselben Tagung den Fragen der Abgeordneten. Willi Stoph übernahm die Verantwortung für die Vernachlässigung der verfassungsmäßigen Pflichten der Regierung. Auch der einstige stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats und Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer bezog Stellung. Ernst Höfner, der ehemalige Minister für Finanzen der DDR, übernahm in seiner Stellungnahme zur DDR-Staatsverschuldung die Verantwortung für die unterlassene Rechenschaftslegung gegenüber der Volkskammer über die wirkliche Finanzlage des Staates.

Erich Mielke war als Minister für Staatssicherheit der Hauptverantwortliche für den Ausbau des Überwachungssystems der SED. Er hielt auf der 11. Tagung seine erste Rede vor der Volkskammer überhaupt. Schon zu Beginn verunsichert, sprach er nach der Aufforderung eines Abgeordneten, nicht immer wieder das Wort "Genossen" zu gebrauchen, die oft zitierten Worte:

"Das ist doch eine formale Frage. Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen. Na ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein!" Mielke erntete für den Ausspruch und seine Stellungnahme lautes Gelächter der Abgeordneten.

Vier Tage später, bei der 12. Tagung der Volkskammer, hielt Hans Modrow seine Regierungserklärung vor den Abgeordneten und präsentierte die 28 Minister seines verkleinerten Kabinetts. Nach einer offenen Diskussion im Plenum wurde dem Kabinett Modrow mit fünf Gegenstimmen und sechs Enthaltungen das Vertrauen ausgesprochen.
Am 1. Dezember 1989 beschloss die Volkskammer schließlich auf ihrer 13. Tagung den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung zu streichen. Im Artikel 1, Absatz 1, zweiter Halbsatz wurde der Passus "unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" nach der Abstimmung getilgt. Damit war der Parteidiktatur formal ein Ende gesetzt.

Auf derselben Tagung stellte der Abgeordnete Richard Wilhelm den Antrag, dass die Volkskammer sich von der von ihr am 8. Juni 1989 verabschiedeten China-Resolution distanzieren solle. Während das Massaker auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) in Peking weltweit mit Erschütterung aufgenommen und verurteilt worden war, hatte die DDR-Regierung im Juni 1989 ihre Solidarität mit der Volksrepublik China bekundet. Mit Beifall hatten sich auch die Volkskammerabgeordneten auf ihrer 9. Tagung solidarisch erklärt:

„Die Abgeordneten der Volkskammer stellen fest, dass in der gegenwärtigen Lage die von der Partei- und Staatsführung der Volksrepublik China beharrlich angestrebte politische Lösung innerer Probleme infolge der gewaltsamen, blutigen Ausschreitungen verfassungsfeindlicher Elemente verhindert worden ist. Infolgedessen sah sich die Volksmacht gezwungen, Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen. Dabei sind bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen.“

Der Abgeordnete Richard Wilhelm bezog am 1. Dezember Stellung zu dieser Resolution: „Das war einer der schwärzesten Tage in der Geschichte unseres Hauses.“
Auf der 11. Tagung der Volkskammer am 7. Juni 1990 sprachen die Abgeordneten der Volkskammer offiziell ihr Bedauern über die ein Jahr zuvor verabschiedete Unterstützung des militärischen Vorgehens der chinesischen Regierung aus und gedachten der Opfer.

Die Volkskammer 1990

Im Frühjahr 1990 stand die Volkskammer der DDR ganz im Zeichen der anstehenden Parlamentswahlen. Die 9. Volkskammer beschloss am 20. Februar ein neues Wahlgesetz. Im neuen Parlament sollten statt 500 nur noch 400 Abgeordnete sitzen, die frei, allgemein, gleich, direkt und geheim gewählt werden sollen. Als Wahltermin wurde der 18. März 1990 festgesetzt.

24 Parteien, Bündnisse und Vereinigungen warben im Vorfeld der Wahlen um die Gunst der stimmberechtigten DDR-Bürger. Eine große Rolle spielten die Parteien aus der Bundesrepublik, die ihre jeweiligen Partnerparteien im Wahlkampf unterstützten. Das Ergebnis gestaltete sich dementsprechend. Bei den ersten, einzigen und auch letzen freien Volkskammerwahlen in der Geschichte der DDR siegte am 18. März 1990 mit rund 48 Prozent der Stimmen die „Allianz für Deutschland“, die sich aus der CDU, der Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA) zusammensetzte. Die SPD erhielt überraschend nur 21,9 Prozent der Stimmen, die PDS vereinigte 16,2 Prozent auf sich und der Bund Freier Demokraten (BFD) erzielte nur 5,3 Prozent. Das Bündnis 90, das sich aus den drei Bürgerrechtsbewegungen Demokratie Jetzt (DJ), Neues Forum (NF) und Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) zusammensetzte, musste ohne Westpartner auskommen und erhielt nur einen Stimmanteil von 2,9 Prozent. Mit einer Stimmabgabe von rund 94 Prozent der wahlberechtigten Bürger erzielte diese Volkskammerwahl die höchste Wahlbeteiligung in der deutschen Geschichte.

Die Volksvertretung der DDR erhielt mit dem 18. März zum ersten Mal eine demokratische Legitimation. In den wenigen Monaten ihres Bestehens, entschieden die Abgeordneten der Volkskammer nun tatsächlich „über die Grundfragen der Staatspolitik“ – und zwar im vollen Lichte der Öffentlichkeit: Alle Sitzungen der nunmehr 10. Volkskammer wurden im DDR-Fernsehen direkt übertragen.

Die Konstituierung der 10. Volkskammer der DDR

Die konstituierende Sitzung der 10. Volkskammer der DDR fand am 5. April 1990 statt. Alterspräsident Lothar Piche begrüßte die Abgeordneten und eröffnete die Tagung mit den Worten:

„Über die Bedeutung dieses historischen Ereignisses sind wir uns alle bewusst. In dieser Stunde schauen nicht nur die Menschen unseres Landes auf uns, sondern auch unsere Nachbarvölker und die gesamte Welt. 40 Jahre eines schweren Weges gehen in diesem Augenblick zu Ende.“

Nach der Feststellung der Gültigkeit der Wahl vom 18. März stand die Stimmabgabe für den Präsidenten der Volkskammer auf der Tagesordnung. Da mit Einfügung des Artikels 75a in die Verfassung der DDR die Befugnisse des ehemaligen Staatsrates auf das Volkskammerpräsidium übergegangen waren, wurde der neue Präsident formal letztes Staatsoberhaupt der DDR. In einer Stichwahl mit Reinhard Höppner (SPD) wählten die Abgeordneten Sabine Bergmann-Pohl (CDU) zur Volkskammerpräsidentin. Lothar de Maizière wurde in der gleichen Sitzung mit der Regierungsbildung beauftragt.

In der 2. Sitzung der 10. Volkskammer am 12. April 1990 stellte sich Lothar de Maizière (CDU) zur Wahl als Ministerpräsident der DDR. Er wurde mit 265 Stimmen bei 108 Gegenstimmen und 9 Enthaltungen gewählt. In einer Wahl „en Bloc“ bestätigten die Abgeordneten im Anschluss auch die Minister der Großen Koalition, die sich aus den Allianzparteien (CDU, DSU und DA), der SPD und den Liberalen zusammensetzte. Mit der Vereidigung des Kabinetts de Maizière war die erste und letzte frei gewählte Regierung der DDR im Amt.
Eine Woche später, am 19. April, gab Lothar de Maizière seine Regierungserklärung vor der Volkskammer ab. Er verlieh in seiner Rede seinem Wunsch nach einer zügigen Einheit Deutschlands durch Artikel 23 des Grundgesetzes Ausdruck. Die Marschrichtung der neuen Regierung war damit klar formuliert.

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Fraktionen und Tagungen der 10. Volkskammer der DDR

Die 10. Volkskammer der DDR setzte sich aus den Fraktionen CDU/Demokratischer Aufbruch (DA), SPD, PDS, der Fraktion „Die Liberalen“, der Fraktion aus der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands  (DBD) und dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD), der DSU-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Grüne zusammen.

Die Abgeordneten tagten zunächst im Palast der Republik. Nachdem das Gebäude wegen Asbestverseuchung geschlossen werden musste, fanden die 36. und 37. Tagung im Haus der Parlamentarier statt. Die letzte Sitzung der Volkskammer verlegte man ins Staatsratsgebäude.

In der 10. Volkskammer saßen 409 Abgeordnete. Nur drei Prozent dieser Parlamentarier hatten auch schon der 9. Volkskammer angehört. Der Frauenanteil betrug rund 20 Prozent.

Die 409 Abgeordneten der Volkskammer hatten ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen. 38 Mal tagte die 10. Volkskammer der DDR in ihrer nur sechsmonatigen Legislaturperiode. Manchmal dauerten die Tagungen bis tief in die Nacht. Die längste Sitzung war die 37. Volkskammertagung: Sie begann um 7.10 Uhr und endete um 23.30 Uhr, dauerte also ganze 16 Stunden und 20 Minuten. Aus der Vielzahl der Volkskammertagungen, der 164 Gesetzte und 93 Beschlüsse, die in dieser Legislaturperiode verabschiedet wurden, soll an dieser Stelle ein kleiner Ausschnitt dargestellt werden.

Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion

Die 8. Tagung der Volkskammer am 21. Mai 1990 war eine Sondertagung über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der BRD. Am 18. Mai war der Staatsvertrag von Bundesfinanzminister Theodor Waigel und dem DDR-Finanzminister Walter Romberg in Bonn unterzeichnet worden. In der Volkskammertagung übernahmen DDR-Finanzminister Walter Romberg und der Parlamentarische Staatssekretär Günther Krause die Begründung des als Gesetzentwurf eingebrachten Staatsvertrags.

Nach einer langen Debatte wurde der Gesetzentwurf zunächst in die Ausschüsse verwiesen. Genau einen Monat später, am 21. Juni, verabschiedeten der Deutsche Bundestag in Bonn und die DDR-Volkskammer gleichzeitig mit Zwei-Drittel-Mehrheit den Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990. Beide Parlamente stimmten auch über eine Erklärung zur polnischen Westgrenze ab, derzufolge das vereinte Deutschland mit Polen einen völkerrechtlichen Vertrag zur endgültigen Bestätigung der Oder-Neiße-Grenzen schließen sollte.

Das Ländereinführungsgesetz

Einen Tag später, am 22. Juni, fand die erste Lesung des Ländereinführungsgesetzes in der Volkskammer statt. Einen Monat darauf, am 22. Juli, stimmten die Abgeordneten schließlich über das Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der DDR mit Wirkung zum 14. Oktober 1990 ab. Das Gesetz wurde mit Zwei-Drittel-Mehrheit angenommen. Dadurch konnte die zentralistisch aufgebaute DDR in einen föderativen Staat mit fünf neuen Ländern umgebildet werden.

Zeitgleich steuerte die schwelende Krise der Regierungskoalition ihrem ersten Höhepunkt entgegen. Am 24. Juli verließen die Liberalen nach Auseinandersetzung um den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland die Große Koalition. Ministerpräsident de Maizière ließ daraufhin verlautbaren, dass er auch ohne die Liberalen und notfalls sogar ohne die SPD weiterregieren werde. Die Regierungskrise ließ sich in den folgenden Wochen nicht aus der Welt schaffen. Am 19. August gab schließlich SPD-Chef Wolfgang Thierse bekannt, dass auch die SPD die Regierungskoalition verlasse und ihre Minister aus dem Kabinett abziehen würde. Ministerpräsident de Maizière verlor die Regierungsmehrheit.

Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland

In der Volkskammer war derweil der Beitrittstermin zur Bundesrepublik Inhalt langwieriger Debatten. Die 28. Volkskammertagung wurde als historische Sondertagung zum Einigungsvertrag angekündigt.

In der Sitzung am 8. August gab der Ausschuss Deutsche Einheit eine Empfehlung zum Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetztes der BRD gemäß Artikel 23 ab und nannte als mögliches Zeitfenster einen Termin zwischen dem 15. September und 14. Oktober 1990.

In einer langen Debatte wurden Anträge für einen sofortigen Betritt und für einen Beitritt zum 15. September abgelehnt.

Die Abgeordneten stimmten schließlich dem CDU/DA-Antrag zu, die Wahlen zum gesamtdeutschen Parlament in Verbindung mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 14. Oktober 1990 durchzuführen.

Nach einem Sitzungsmarathon fand in der Nacht zum 9. August der Entwurf zum Vertrag über gesamtdeutsche Wahlen jedoch nicht die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Erst am 22. August wurde das Wahlgesetz angenommen.

Vor dem Hintergrund der Regierungskrise verkündete Sabine Bergmann-Pohl in derselben Sitzung am 22. August den Rücktritt von neun Ministern. Lothar de Maizière machte von seinem Recht gebrauch, für den Abend eine Sondersitzung einzuberufen, in der der Fahrplan zur Herstellung der Deutschen Einheit festgelegt werden sollte.

Auf dieser Sondersitzung, der 30. Volkskammertagung, die um 21 Uhr begann und erst in den Morgenstunden endete, wurde in einer langwierigen und schwierigen Debatte der endgültige Beitrittstermin verhandelt.

Der Antrag der DSU-Fraktion, einen Beitritt zur Bundesrepublik zum 22. August herbeizuführen, wurde in Tagesordnungspunkt eins abgelehnt.

Lothar de Maizière appellierte nun an die Abgeordneten, den Beitrittstermin in der laufenden Sitzung zu entscheiden und den Erwartungen der Bürger gerecht zu werden.

In Tagesordnungspunkt zwei der Sondersitzung stand der CDU/DA-Antrag zur Abstimmung, der einen Beitritt zum 14. Oktober beinhaltete. Dieser wurde in den frühen Morgenstunden des 23. Augusts durch einen Abänderungsantrag der Fraktionen CDU/DA, DSU, F.D.P. und SPD schließlich auf den Beitrittstermin 3. Oktober gebracht.

Um 2.30 Uhr konnte Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl schließlich das Abstimmungsergebnis verkünden:  „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. (…). Abgegeben wurden 363 Stimmen, davon ist keine ungültige Stimme abgegeben worden. Mit Ja haben 294 Abgeordnete gestimmt [starker Beifall], mit Nein haben 62 Abgeordnete gestimmt und sieben Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten. Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ist ein wirklich historisches Ereignis. Wir haben uns die Entscheidung alle sicher nicht leicht gemacht, aber wir haben sie heute in Verantwortung vor den Bürgern der DDR in der Folge ihres Wählerwillens getroffen.“
In einer persönlichen Erklärung äußerte Gregor Gysi (PDS) im Anschluss sein Bedauern über die getroffene Entscheidung: „Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 [Beifall] beschlossen.“
Am 31. August wurde der Einigungsvertrag von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Staatssekretär Günther Krause unterzeichnet. Bundestag und Volkskammer stimmten dem Vertrag am 20. September zu.

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Die letzte reguläre Sitzung der 10. Volkskammer der DDR

Die 37. Volkskammertagung am 28. September war die letzte reguläre Sitzung des Parlaments, mit über 16 Stunden Dauer die längste Tagung in der Legislaturperiode und sicherlich eine der spektakulärsten Sitzungen. In der Tagung entbrannte eine emotionale Debatte darüber, ob die Namen von Abgeordneten, die als informelle Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig gewesen waren, öffentlich genannt werden sollten oder nicht. 

Zu Beginn der Sitzung wurde Joachim Gauck zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) bzw. des Amtes für Nationale Sicherheit (AfNS) ernannt. Als Tagesordnungspunkt vier stand der Abschlussbericht des zeitweiligen Prüfungsausschusses zur früheren Mitarbeit von Abgeordneten für das ehemalige MfS bzw. AfNS auf der Tagesordnung. Wie Berichterstatter Peter Hildebrand erläuterte, waren für 15 Abgeordnete und Minister Empfehlungen zur sofortigen Amtsniederlegung ausgesprochen worden. Nach dem Bericht folgte eine emotionsgeladene Diskussion, um die namentliche Nennung der Abgeordneten. Sabine Bergmann-Pohl erklärte sich aus Gewissensgründen außerstande, die Namen der Abgeordneten zu verlesen. Nach langen Verhandlungen wurde trotzdem beschlossen, die Personen zu benennen.

Nach einem neuen verzögernden Antrag, den getroffenen Beschluss zunächst vom Verfassungsausschuss prüfen zu lassen, ließ die Abgeordnete Christine Grabe von den Grünen ihren Emotionen freien Lauf:

„Ich weiß nicht, nehmen Sie sich eigentlich ernst oder nicht? Ich verstehe die Abgeordneten in diesem Hause nicht. Ich finde es unerträglich. Es ist ein erbärmliches Spiel. Ich weiß nicht, wie Sie das das den Leuten in diesem Lande erklären wollen. [Applaus]. (…). Es ist unglaublich! Diese Volkskammer diffamiert sich selber.“

Parlamentarier von SPD und Grünen traten in den Sitzstreik. Am Nachmittag entschlossen sich mehrere Abgeordnete, zu den ihnen vorgeworfenen Stasi-Kontakten Stellung zu nehmen. Bauminister Axel Viehweger (F.D.P.), Bernhardt Opitz (F.D.P.), Eberhard Schiffner (CDU), Heinz Blume (CDU), Peter Stadermann (PDS), Brigitte Zschoche (PDS), Frank Terpe (SPD) und Klaus Steinitz (PDS) richteten persönliche Erklärungen an die Abgeordneten.

38. und letzte Tagung der Volkskammer der DDR

Die 38. und letzte Tagung der Volkskammer der DDR fand am 2. Oktober als Festsitzung im Staatsratsgebäude statt. Nach zahlreichen Reden oblag es der Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl zum Ende der Tagung die Schlussworte zu sprechen:

„Zum letzten Mal kommen wir heute als Abgeordnete des ersten frei gewählten Parlaments in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik zusammen. Unser Abschied in dieser Stunde ist so ungewöhnlich wie unser Auftrag, der uns vor sieben Monaten von den Wählerinnen und Wählern auf den Weg gegeben wurde. Er bestand darin, alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir heute die Arbeit beenden können. Wann war eine demokratische Volksvertretung jemals in der Geschichte mit einer solchen Aufgabe beauftragt worden? Mit dem morgigen Tag können wir sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden.“

144 der 409 Volkskammer-Abgeordneten wurden mit Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes in den ersten gesamtdeutschen Bundestag entsendet, der am 4. Oktober 1990 erstmal tagte.

Am 2. Dezember fanden die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen seit 1932 statt.

Literatur

Backes, Uwe; Jesse, Eckhard: Historischer Überblick. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Informationen zur politischen Bildung 207, Parteiendemokratie. www.bpb.de (06.10.2008) 

Hausmann, Christopher: Biographisches Handbuch der 10. Volkskammer der DDR (1990), Köln, Weimar, Wien 2000.

Hintergrund: Volkskammerwahl 1990, Spiegel Online 17.03.2000. www.spiegel.de (08.03.2009) 

Patzelt, Werner J.; Schirmer, Roland (Hg.): Die Volkskammer der DDR. Sozialistischer Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Wiesbaden 2002.

Sorgenicht, Klaus; Weichelt, Wolfgang; Riemann, Tord; Semler, Hans-Joachim (Hg.): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente, Kommentar, Berlin 1969.

Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 6. April 1968 in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung und Änderung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1974, Berlin 1974.

Weber, Hermann: Die DDR 1945-1990, (Oldenbourg-Grundriss der Geschichte; Bd. 20), München 1993.

Zimmerling, Zeno; Zimmerling, Sabine: Neue Chronik der DDR, Folge 4-8, Berlin 1990/91.

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