1989 - 1990 Wende-Zeiten

Geschichte(n) in Schlagzeilen: Das Jahr 1990

Das erste Rolling Stones Konzert in der DDR, die „Menthol-Zigaretten-Story“ oder der Rücktritt von Wolfgang Schnur: Das Jahr 1990 sorgte für Zeitungsschlagzeilen, die Geschichten erzählten oder Geschichte machten. Von Januar bis Oktober 1990 werden 10 Geschehnisse vorgestellt, die Zeitungsgeschichte schrieben.

1990 war ein bewegtes und bewegendes Jahr, das gerade auch in den Schlagzeilen der Zeitungen seinen Niederschlag gefunden hat. In Ost- und Westdeutschland ließen sich die großen und auch kleinen Ereignisse des Jahres 1990 in der Tagespresse erstmals gleichermaßen unzensiert mitverfolgen.

Von Januar bis Oktober 1990 werden im Folgenden die Geschehnisse hinter den Schlagzeilen vorgestellt, die vor 20 Jahren große Geschichte machten, kleine Geschichten erzählten oder die Zeitungsleser in Ost und West bewegten.

Die Menthol-Zigaretten-Story: „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ’gemacht’ werden“

Am 4. Januar 1990 strahlte das Fernsehen der DDR unter dem Titel „Die Menthol-Zigaretten-Story. Eine Geschichte aus der alten DDR“ eine Aufsehen erregende Reportage von Hannes Zahn aus. Aufhänger des Dokumentarberichtes war eine Geschichte aus der Zeitung „Neues Deutschland“ (ND). Das ND hatte im September 1989 von der spektakulären Entführung des Mitropa-Kochs Hartmut Ferworn in die Bundesrepublik berichtet.

Was hatte sich zugetragen?
Am 19. September 1989 druckte das ND eine ganzseitige Dokumentation, die den „stabsmäßig organisierten Menschenhandel“ durch die Bundesrepublik Deutschland aufdecken und illustrieren sollte.

Zwei Tage später veröffentlichte das Blatt empörte Lesermeinungen über die Praktiken der Bundesrepublik und verwies auf einen Beitrag zum Thema in der Sendereihe „Objektiv“ im DDR-Fernsehen am gleichen Abend. Eine Medienkampagne war gestartet.

Unter der Überschrift „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger ‘gemacht’ werden“ druckte das ND am 21. September 1989 ein ausführliches Interview mit Hartmut Ferworn, einem Koch im Mitropa-Fahrbetrieb, der detailreich seine Entführung von Budapest nach Wien beschrieb: Mit einer Menthol-Zigarette sei er betäubt worden. Er nannte auch den Namen seines Entführers, dem „professionellen Menschenhändler“ Strozzig, und dessen bundesrepublikanischem Kontaktmann.

Die Rückkehr in die DDR gelang Ferworn, nach eigenen Angaben, mit Hilfe der DDR-Botschaft in Wien.

Als sich die Familie des der Entführung Beschuldigten gegen die Behauptungen verwahrte, reagierte das ND am 3. November 1989 „in eigener Sache“ mit einer Entschuldigung, ging aber immer noch von einer authentischen Geschichte aus. Am 5. Januar 1990 schließlich folgte nach dem Fernsehbeitrag am Vorabend der endgültige Rückzug: Hartmut Ferworn hatte vor der Ausstrahlung dementiert. Das „Neue Deutschland“ sah sich als Opfer der politischen Verhältnisse.

Die Oder-Neiße Grenze: „Stimmung an der Weichsel: ´Nichts über uns ohne uns!´“

Die Diskussionen um eine deutsche Wiedervereinigung nach dem Mauerfall ließ in den Nachbarstaaten die Sorge um Frieden und Sicherheit in Europa wieder aufleben. Namentlich in Polen war die Befürchtung groß, es könnte der Oder-Neiße-Grenze, wie sie im Potsdamer Abkommen festgelegt und bereits 1950 im Vertrag von Zgorzelec durch die DDR anerkannt worden war, die offizielle Anerkennung durch das vereinigte Deutschland bis zum Abschluss eines Friedensvertrages versagt bleiben. Über die Besorgnis der polnischen Regierung berichtete das „Neue Deutschland“ am 16. Februar 1990 unter der Überschrift „Stimmung an der Weichsel: ‚Nichts über uns ohne uns!’ Polen sorgt sich um seine Grenze an Oder und Neiße“.

In der Tat gab es zu Beginn des Jahres 1990 in der Bundesrepublik in der CDU/CSU Stimmen, die die Grenzfrage offen halten wollten, wohingegen die Regierung der DDR unter Hans Modrow am 16. Februar in Warschau gegenüber Polen die Gültigkeit des Abkommens von Zgorzelec und damit die Verbindlichkeit und Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze bestätigte.

Am 21. Juni verlas die Präsidentin der Volkskammer der DDR Sabine Bergmann-Pohl eine Erklärung der Volkskammer zur polnischen Westgrenze, derzufolge das vereinte Deutschland mit Polen einen völkerrechtlichen Vertrag zur endgültigen Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze schließen sollte. Der Deutsche Bundestag schaffte schließlich am 15. November 1990 in einer Sondersitzung Klarheit und stimmte dem tags zuvor unterzeichneten deutsch-polnischen Grenzvertrag zu.

Der Fall Wolfgang Schnur: „Ich wollte an der politischen Macht bleiben“

"Der Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs Schnur hat heute aufgegeben. Nachdem er eine Woche lang jegliche Tätigkeit als Stasi-Spitzel energisch geleugnet hatte, gestand er am Vormittag ein, für den früheren DDR-Staatssicherheitsdienst gearbeitet zu haben und trat mit sofortiger Wirkung von seinem Amt zurück.“

Diese Meldung verlas die Nachrichtensprecherin Angelika Unterlauf am 14. März in der Sendung „AK am Abend“ des Deutschen Fernsehfunks (DFF).

Der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur war Gründungsmitglied der Bürgerbewegung Demokratischer Aufbruch (DA) und wurde im Dezember 1989 – anlässlich der Gründung des DA als Partei – zu deren Vorsitzenden gewählt.

Am 8. März 1990 tauchte der Verdacht der inoffiziellen Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR auf. Schnur gab für sich selbst eine Ehrenerklärung ab. Am folgenden Tag sprach ihm auch DA-Vorstandskollege Rainer Eppelmann das Vertrauen aus. Die Bundesregierung nahm ihn ebenfalls in Schutz, da er sie jahrelang über politische Strafverfahren gegen DDR-Bürger informiert habe.

Der „Spiegel“ meldete am 10. März, Schnur habe auch regelmäßig über Mandanten und Interna der Evangelischen Kirche an das MfS berichtet. Tags darauf sprach der Wahlparteitag des DA Schnur dennoch das Vertrauen aus.

Schnur selbst bezeichnete die Vorwürfe als „Gipfel einer Kampagne“.

Am 12. März bestätigte Rainer Eppelmann das Vorhandensein von Stasi-Unterlagen. Schnur bestritt die Vorwürfe jedoch erneut. Die Generalstaatsanwaltschaft der DDR nahm nun Ermittlungen gegen Unbekannt aufgrund einer Anzeige von Schnur selbst auf. Die Bundesregierung stellte sich auch zu diesem Zeitpunkt hinter Schnur. Am Folgetag verlangte Schnur vom „Spiegel“ eine Gegendarstellung. Gregor Gysi warf er die Mitverantwortung an einer groß angelegten Verleumdungskampagne vor.

Am 14. März 1990 bestätigte Schnur schließlich seine IM-Tätigkeit und trat als Vorsitzender des Demokratischen Aufbruchs zurück. Der DA schloss ihn tags darauf aus und wählte Rainer Eppelmann zum Vorsitzenden der Partei.

Die „Berliner Zeitung“ berichtete am 15. März 1990 über die Vorgänge um den Vorsitzenden des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur: „Eppelmann hat einen Freund verloren – DA-Chef Schnur“. Am 7. Juni 1991 resümierte Schnur in einen Interview der Tageszeitung „Junge Welt“: „Ich wollte an der politischen Macht bleiben. Alles andere wäre Heuchelei“.

2:1 oder 1:1: „Aufrufe zur Demonstration gegen ‚Wahlbetrug’. Proteste gegen 2:1-Kurs in der Republik“

„Wir haben jetzt die einmalige Chance, zum Hinterhof und Armenhaus der BRD zu werden“, empörte sich die Schauspielerin Käthe Reichel am 5. April 1990 auf einer Demonstration im Berliner Lustgarten.
Die Tageszeitung taz hatte diese von den Gewerkschaften initiierten DDR-weiten Protestdemonstrationen gegen einen Umtauschkurs zwischen Mark der DDR und D-Mark von 2:1 folgendermaßen angekündigt: „Aufrufe zur Demonstration gegen ‚Wahlbetrug’. Proteste gegen 2:1-Kurs in der Republik.“

Rund 100.000 Berliner folgten dem Aufruf, gegen die Empfehlungen des Zentralbankrats der Deutschen Bundesbank zu protestieren, die Mark der DDR in einem Verhältnis von 2:1 bei Löhnen, Gehältern und Renten sowie bei Sparguthaben ab 2.000 Mark umzutauschen. Ähnliche Veranstaltungen fanden in den Bezirksstädten und anderen Orten der DDR statt. Der Leipziger Demonstrationszug wählte mit bewusster Symbolik den Weg der nicht lange zurückliegenden Montagsdemonstrationen ins Stadtzentrum. In Halle skandierten 20.000 Gewerkschafter den Ruf „Wir sind keine halben Deutschen“. Von Wahlbetrug war allerorten die Rede. Diesen Umtauschkurs werde man nicht hinnehmen. Die Nachrichtensendungen des Hörfunks und Fernsehens der DDR berichteten.

Die Empfehlung der Bundesbank wurde indessen nicht nur auf der Straße heftig diskutiert. CDU und SPD der DDR sprachen sich für ein 1:1-Umtauschverhältnis aus. Der Noch-DDR-Ministerratsvorsitzende Hans Modrow, Bischof Gottfried Forck und der Chef der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Ulf Fink erinnerten Bundeskanzler Helmut Kohl an seine Vor-Wahl-Versprechen. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel warf dem Kanzler vor, Deutschlandpolitik als Privatsache zu behandeln ohne Einbeziehung der Opposition.

 

Bundesfinanzminister Theo Waigel nannte den Banken-Vorschlag hingegen „positiv bemerkenswert“. Helmut Kohl betonte, er habe im DDR-Wahlkampf keine weitgehenden Versprechungen gemacht, sondern lediglich für Normalbürger einen vernünftigen Umtauschsatz gefordert. Die DDR sei kein „Land der reichen Leute“.

 

Am 23. April schlug die Kohl-Regierung der DDR einen Umtauschkurs von 1:1 bei Löhnen, Gehältern und Renten sowie 2:1 bei Sparguthaben ab 4.000 DDR-Mark vor. Die zwischen beiden Regierungen am 2. Mai beschlossenen Eckdaten zur Währungsunion lauteten dann wie folgt:

Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten und Pachten werden im Verhältnis 1:1 umgestellt. Bargeld und Sparguthaben werden ebenso getauscht für Bürger bis 14 Jahre und bis zu 2.000 Mark, zwischen 15 und 59 Jahren bis zu 4.000 Mark und über 60 Jahre bis zu 6.000 Mark. Darüber hinaus gilt das Verhältnis 2:1.

Am 1. Juli trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion schließlich in Kraft und in der DDR wurde die D-Mark wird zum einzigen Zahlungsmittel.

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Faites vos jeux – nun auch in der DDR: „Die höchste Spielbank Europas“

„Sehnsucht nach neureichen Zockern: ‚Die höchste Spielbank Europas’“, vermeldete die „Berliner Zeitung“ in ihrer Wochenendausgabe vom 19./20. Mai 1990. Eröffnung feierte die erste Spielbank der DDR bereits am 18. Mai 1990 am Berliner Alexanderplatz. In „gehobener Atmosphäre“ in der 37. Etage des Interhotels Stadt Berlin erwartete das gerade gegründete deutsch-deutsche Joint-Venture-Unternehmen „Neue Deutsche Spielcasino GmbH“ seine mehr oder weniger betuchten Gäste.

Ab einem Alter von 18 Jahren und einem Mindesteinsatz von fünf D-Mark am Roulette-Tisch sowie dem doppelten beim Black Jack - dem 17 + 4 für die Dame der Gesellschaft - konnte man dazugehören, feiner Zwirn vorausgesetzt.

Für junge Herren zwischen 19 und 24 Jahren boten sich als Croupier neue Jobchancen. Das Unternehmen wollte sie eigens ausbilden und 250 Bewerbungen gingen ein.

Leute wie du und ich sollten laut Casino-Direktor Karl-Heinz Bringer Kunde werden können. Sein Geschäftsrisiko erkannte er allerdings darin, dass man über das Spielverhalten von DDR-Bürgern nicht recht im Bilde war. Auch wusste niemand, wie locker die D-Mark nach der Währungsunion beim Normalbürger sitzen würde. So hoffte man in erster Linie auf zahlungskräftige Touristen und die ortsansässige Schickeria.

Neben der Bank wollte auch die Stadt Ost-Berlin gewinnen. In den ersten drei Betriebsjahren sollte sie 70 Prozent des Ertrags erhalten, später sogar 80 Prozent. Die alleinige Konzession für alle Spielcasinos auf DDR-Gebiet hatte der ehemalige Ministerratsvorsitzende Hans Modrow für 25 Jahre an die DDR-Interhotels vergeben.

RAF-Terroristin Susanne Albrecht verhaftet: „Rätselraten über die Rolle der DDR-Stasi“

Ingrid Jäger, eine unauffällige Frau Ende dreißig, kehrte am Nachmittag des 6. Juni 1990 in ihre Wohnung in Berlin-Marzahn zurück. In „engem Zusammenwirken zwischen beiden deutschen Innenministerien und den entsprechenden Staatsanwaltschaften“, wie es später hieß, wurde sie als Susanne Albrecht, steckbrieflich gesuchte Terroristin der Roten Armee Fraktion (RAF), in Berlin-Marzahn von der DDR-Kriminalpolizei festgenommen. Als einen „international beachtlichen Fahndungserfolg“ präsentierte Peter-Michael Diestel, Innenminister der DDR, die Aktion am 7. Juni vor der Presse.

Am 30. Juli 1977 war Susanne Albrecht zu einer der meist gesuchten RAF-Terroristinnen geworden. Zusammen mit zwei Begleitern besuchte die Hamburger Anwaltstochter an diesem Tag den Patenonkel ihrer Schwester in seinem Haus in Oberursel im Taunus, den Bankier Jürgen Ponto. Sie überreichten ihm einen Rosenstrauß, dann feuerten die beiden Begleiter Albrechts mehrere Schüsse auf Ponto ab. Er erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus.

Der Mord an dem Bankier war die Rache der RAF für die Verurteilung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe am 28. April 1977 in Stuttgart-Stammheim. Seit dieser Tat wurde Susanne Albrecht von den bundesrepublikanischen Sicherheitsbehörden gesucht, 13 Jahre lang vergebens.

1980 reiste Albrecht über die Tschechoslowakei in die DDR ein. Sie beantragte die DDR-Staatsbürgerschaft, die sie nach Absolvierung des dafür üblichen Prozedere auch erhielt. Sie heiratete in der DDR, brachte ein Kind zu Welt und arbeitete unauffällig als Chemielaborantin.

Die letzten beiden Jahre verbrachte sie im Ausland, in der Sowjetunion, hieß es. Vielleicht arbeitete sie für den KGB? Hat sie nicht auch in Cottbus gelebt? Welche Rolle spielte die Staatssicherheit, ohne deren Wissen Albrecht wohl nicht in die DDR kam? Kannte der Bundesnachrichtendienst ihren Aufenthaltsort? Leben weitere RAF-Aktivisten auf DDR-Gebiet? Über all diese Dinge ließ sich Anfang Juni 1990 in den Medien trefflich spekulieren. „Rätselraten über die Rolle der DDR-Stasi: ‚Neue Identität für Frau Albrecht nicht aus Nächstenliebe!’ / Haftbefehl erlassen“, so  titelte etwa die „Frankfurter Rundschau“ am 9. Juni 1990. 

„Wir haben Realpolitik gemacht“, resümierte Michail Gorbatschow am 16. Juli 1990 nach seinem zweitägigen Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf einer gemeinsamen Pressekonferenz im kaukasischen Shelesnowodsk. Das vereinte Deutschland wird 45 Jahre nach Kriegsende in die politische Souveränität entlassen. Die „Frankfurter Allgemeine“ titelte am 18. Juli: „Ein Gefühl, als könnte man Berge versetzen: Gorbatschows und Kohls kaukasische Stunden“.

Was bekam der sowjetische Staats- und Parteichef dafür?

Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, Deutschland bestehend aus Bundesrepublik, DDR und Berlin, den Verzicht Deutschlands auf eigene ABC-Waffen und eine Beschränkung der Streitkräfte auf 370 000 Mann.

Deutschland wurde Mitglied der NATO, wenn auch ohne ausländische Truppen an der Oder. Aber auch der Abzug der sowjetischen Streitkräfte innerhalb von drei bis vier Jahren wurde festgelegt.

Zudem die Nicht-Ausdehnung der NATO-Strukturen auf DDR-Territorium bis zum endgültigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte, die Stationierung von lediglich nicht in das Bündnis integrierten westdeutschen Truppen unmittelbar nach der Vereinigung, der Verbleib der Westalliierten in Berlin bis zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland und nicht zuletzt einen deutsch-sowjetischen Grundlagenvertrag als Ersatz für einen ursprünglich geplanten Friedensvertrag.

In einer acht Punkte umfassenden Erklärung erläuterte Helmut Kohl diese Verhandlungsergebnisse. Nach seiner Rückkehr aus dem Kaukasus wollte er den amerikanischen Präsidenten George Bush und DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière über die Verhandlungsergebnisse informieren. Die DDR-Regierung hatte im Detail andere Vorstellungen vertreten, so etwa zur gesamtdeutschen Truppenstärke von 370 000 Mann, die sie für zu hoch hielt. Aber sie saß nicht mehr mit am Verhandlungstisch.

Die Rolling Stones in Berlin-Weißensee:  „Phantastisch, und wir waren dieses Mal dabei“

Noch größer, noch besser, noch teurer als alles, was bisher auf europäischen Schauplätzen von den Rolling Stones zu sehen war, sollte es sein. Die 20 Millionen Dollar teuren, eine marode Industrielandschaft stilisierenden Bühnenaufbauten von 80 Metern Breite und 30 Metern Tiefe hatten bisher nur in amerikanischen Fußballstadien und im Tokyo-Dome installiert werden können.

Eigens für zwei Konzerte an der Weißenseer Radrennbahn schafften die Stones das Equipment für ihre Show „Steel Wheels“ nach Europa.

Das Premierenkonzert der Stones in der DDR sollte für Fans und Veranstalter wohl nicht nur ein musikalisches Ereignis sein. Am 13. August 1990 fand es statt, dem 29. Jahrestag des Mauerbaus. Zufall oder nicht? Der Vorverkauf soll allerdings etwas zähflüssig gelaufen sein, Schwarzhändler kamen nicht recht auf ihre Kosten.

Wie kaum eine andere Rockband forderten die Rolling Stones seit Anfang der 60er Jahre den Unmut nicht nur sozialistischer Kulturpolitiker heraus. Erscheinungsbild, provokante Musik und auffälliges Gebaren erschreckten den Spießer allerorten. Zwischen Oder und Elbe war in regelmäßigen Abständen von Auswüchsen bürgerlicher Dekadenz schlechthin, von Versuchen des Imperialismus zur Jugendbeeinflussung die Rede.

DDR-Gruppen, die den Stones nacheiferten, standen in ständiger Kritik oder wurden schlichtweg verboten. Als sich 1969 hunderte Fans aus der DDR auf Ostberliner Seite in Mauer-Nähe versammelten, auf das Gerücht vertrauend, die Stones würden auf dem Dach des Springer-Hochhauses auf Westberliner Seite spielen, war die Polizei umgehend zur Stelle.

 

Am 13. August 1990 begann „Steel Wheels“ kurz vor 22 Uhr. Mick Jagger sagte artig „Guten Abend allerseits“, dann rockte es mit Volldampf. Hinterher zeigten sich Fans und Kritiker angetan, obwohl manch’ Bekanntes präsentiert wurde. Skandalöses wie früher geschah indes nicht. Dafür gab es ein Feuerwerk zum Abschluss. Anschaulich gab die Tageszeitung „Junge Welt“ in ihrer Ausgabe vom 15. August 1990 den Abend wieder. Euphorische Stimmung, drangvolle Enge, Fan-Insignien, Sprechchöre in der Hitze der Nacht. Und alle konnten sagen: „Phantastisch, und wir waren dieses Mal dabei.“ (Schlagzeile der „Jungen Welt“, 15. August 1990)

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September 1990

Die vorsorgliche Abschaltung von DT 64: „Frequenzen verhökert?“

Wer sich außerhalb von Berlin-Brandenburg am Samstagmorgen, dem 8. September 1990, vom Jugendsender DT 64 in den Tag begleiten lassen wollte, drehte verdutzt am Sendereinstellungsknopf seines Radiogeräts. Auf der gewohnten Frequenz sendete seit vier Uhr in der Früh RIAS Berlin. Zwölf der 18 Jugendradio-Frequenzen wurden bereits am Vorabend um 20 Uhr gekappt. DT 64 sendete nur noch für Berlin-Brandenburg. Kurz nach der Abschaltung kam es in allen bisherigen Empfangsgebieten zu Hörerprotesten, sogar Hungerstreiks wurden angekündigt. Nach 24 Stunden war zunächst alles wieder beim Alten. DDR-Medienminister Gottfried Müller beendete die Aktion.

Die Presse wetteiferte in der Bewertung: „Nacht- und Nebel-Aktion“, „DDR-Funk als Beute“, „Skandal, eiskalter Schlag“, „medienpolitische Piraterie“, „Medienputsch“ oder wie die Abendzeitung „BZ am Abend“ am 8. September: „Frequenzen verhökert? Seit heute früh sendet RIAS auf zwei Dritteln der DT-64-Wellen“.

Die Frequenzen wurden von den Technikern des DDR-Hörfunks auf Anweisung des geschäftsführenden Intendanten Christoph Singelnstein ohne Erlaubnis der zuständigen Instanzen abgeschaltet: Weder Kabelrat, Medienkontrollrat, Post in Ost und West, Bundesinnenministerium und DDR-Medienministerium hatten ihr Einverständnis erklärt, die Belegschaften der Sender waren nicht informiert und die  rechtlichen Vorgaben des Artikels 36 des in Kürze wirksam werdenden Einigungsvertrages wurden nicht berücksichtigt.

Am 7. September berichten die DT 64 Mitarbeiter Katrin Panier und Ulf Drechsel im Jugendmagazin „Elf 99“ über die geplante Abschaltung ihrer Frequenzen. Katrin Panier erzählte:

„Ja wisst ihr, bei uns war das so: Wir saßen heute ganz normal zum Freitagnachmittag bei uns in der Redaktion und dann haben wirs über unsere eigenen Nachrichten erfahren.“

Singelnstein und sein RIAS-Amtskollege Helmut Drück gerieten in Erklärungsnot. Sie hätten in strikter Vertraulichkeit eine „Vereinbarung zur Zusammenarbeit“ geschlossen, die man sich später medienrechtlich habe absegnen lassen wollen. Um die Übernahme von 35 Arbeitsplätzen (der insgesamt 140 Arbeitsplätze bei DT 64) sei es gegangen, um den Frequenzerhalt für das öffentlich-rechtliche System, das Abwehren privatrechtlicher Begehrlichkeiten. Man habe „den Gestaltungsspielraum genutzt, der bis zum Übergang der Medienhoheit an die zu bildenden Länder verbleibt“, so Drück. Es solle auch weiterhin zusammengearbeitet werden, in Richtung eines nationalen Hörfunks aus Berlin.

Oktober 1990

Letzter Vorhang für das DDR-Parlament: „Die letzte Volkskammer macht dicht“

Am 2. Oktober 1990 tagte die Volkskammer der DDR zum letzten Mal. Erst am 18. März desselben Jahres war das Parlament für die 10. Legislaturperiode gewählt worden. In der 10. Volkskammer saßen 409 Abgeordnete. Nur drei Prozent dieser Parlamentarier hatten auch schon der 9. Volkskammer angehört.

Die 409 Abgeordneten hatten ein enormes Arbeitspensum zu bewältigen. 38 Mal tagte die 10. Volkskammer der DDR in ihrer nur sechsmonatigen Legislaturperiode. Die längste Tagung war die 37. Sitzung der Volkskammer. Sie dauerte 16 Stunden und 20 Minuten.

Von den 409 Abgeordneten waren 20 Prozent weiblichen Geschlechts und 133 Parlamentarier trugen einen Doktortitel. 35 Abgeordnete wechselten in der Legislaturperiode die Partei oder wurden fraktionslos. Ein SPD-Abgeordneter legte sein Mandat nieder und eine Abgeordnete (Bündnis 90/Grüne) erlitt einen tödlichen Verkehrsunfall.

Am häufigsten und längsten redeten:

Lothar de Maizière (CDU/DDR), Gregor Gysi (PDS), Rainer Ortleb (LDP/BFD), Gerhard Pohl (CDU/DDR), Jürgen Schwarz, Hansjoachim Walther (DSU), Günter Nooke (Demokratie Jetzt), Hans-Joachim Hacker (SPD/DDR) und Günther Krause (CDU/DDR).

Volkskammer-Vizepräsident Reinhard Höppner (SPD) erhielt kein einziges Mal Gelegenheit zu einer eigenständigen Rede.

Mehr als 7.000 Gäste besuchten die letzte Volkskammer, einige kamen sogar aus Kanada oder den USA.

Während der Festsitzung am 2. Oktober nahmen Abgeordnete aller Fraktionen die Gelegenheit war, Bilanz zu ziehen. Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl resümierte:

„Zum letzten Mal kommen wir heute als Abgeordnete des ersten frei gewählten Parlaments in der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik zusammen. Unser Abschied in dieser Stunde ist so ungewöhnlich wie unser Auftrag, der uns vor sieben Monaten von den Wählerinnen und Wählern auf den Weg gegeben wurde. Er bestand darin, alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass wir heute die Arbeit beenden können. Wann war eine demokratische Volksvertretung jemals in der Geschichte mit einer solchen Aufgabe beauftragt worden? Mit dem morgigen Tag können wir sagen: Wir haben unseren Auftrag erfüllt, die Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden.“

Die Sprecher der sechs Fraktionen betonten, es gebe keinen Grund zur Selbstzufriedenheit, vieles sei nicht auf den Weg gebracht worden. So meinte Günther Krause, der Mangel an parlamentarischer Erfahrung und die Notwendigkeit zur Eile hätten auch zu Fehlern geführt. Jens Reich von der Fraktion Bündnis 90/Grüne stellte fest: „Ich fürchte, wir werden in der Gesamtgeschichtsschreibung über eine Drei nicht hinauskommen“. Die Tageszeitung „Die Welt“ resümiert am 3. Oktober über die letzte Wahlperiode der Volkskammer und titelte: „Die letzte Volkskammer macht dicht“. 144 der 409 Volkskammerabgeordneten zogen in den Deutschen Bundestag ein.

Quellen

Berliner Zeitung. Berliner Verlag, Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

BZ am Abend. Berliner Verlag, Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZIT-Stiftung Gemeinnützige Verlagsgesellschaft mbH, Frankfurt am Main, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

Junge Welt. Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

Neues Deutschland. Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

taz - Die Tageszeitung. taz-Verlagsgenossenschaft e. G., Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

Die Welt. Axel Springer Verlag, Berlin, Ausgaben aus dem Jahr 1990.

(mk/al)