1989 - 1990 Wende-Zeiten

Ausreise

Der im August beginnende Exodus von DDR-Bürgern läutete das Ende des DDR-Staates ein. Während des „paneuropäischen Picknicks“ flüchteten 600 DDR-Bürger über die ungarisch-österreichische Grenze. Versuche der Regierung, die Ausreisewelle als vom Westen gesteuert darzustellen, scheiterten angesichts der anhaltenden Fluchtwelle und der sich ändernden politischen Verhältnisse.

Die Massenflucht von DDR-Bürgern entwickelte sich im Jahr 1989 zu einem zentralen Faktor für den Zusammenbruch der DDR. Flucht und Ausreise wurden jedoch nicht erst im Herbst ‘89 ein bestimmendes Thema im „Arbeiter- und Bauernstaat“. Die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und eines Teils der intellektuellen Elite, die in den vier Jahrzehnten der Existenz der DDR nie wirksam unterbunden werden konnte, bedeutete für die Wirtschaft und Kultur der DDR einen herben Verlust. 

Allein zwischen 1949 und 1952 flüchteten etwa 675.000 Bürger aus der DDR in die BRD. Im Mai 1952 reagierte die Staatsführung auf den Flüchtlingsstrom mit einer Stacheldrahtabsperrung an der innerdeutschen Grenze und der Errichtung einer fünf Kilometer breiten Sperrzone. Der Schienen- und Straßenverkehr in den grenznahen Gebieten wurde unterbrochen bzw. reduziert.

Im darauf folgenden Jahr kam es nach den Ereignissen um den 17. Juni 1953 zu einer verstärkten Flüchtlingsbewegung in die BRD. Von nun an verließen bis 1960 jedes Jahr zwischen 140.000 und 330.000 Menschen die DDR. Von 1946 bis 1961 waren es knapp 3 Millionen Menschen, die ihrer Heimat den Rücken kehrten.

Der Ausbau der innerdeutschen Sperranlagen führte zu einem Anstieg der Flucht über West-Berlin. Ziel des Mauerbaus am 13. August 1961 war es daher, das „Schlupfloch West-Berlin“ endgültig zu stopfen. Wenige Wochen nach der Errichtung der Mauer begann man mit flächendeckenden Verminungsaktionen am innerdeutschen Grenzstreifen. Durch diese Maßnahmen gelang es tatsächlich, die Flucht in den Westen einzudämmen.

Die „ständige Ausreise“ wurde hingegen, wenn der DDR-Wirtschaft ein finanzieller Nutzen aus der Übersiedlung erwuchs, von der Staatsführung durchaus zugelassen oder sogar gefördert. Dies betraf insbesondere den „Verkauf“ von politischen Häftlingen an die BRD (1964 bis 1989 betrug deren Zahl rund 34.000) sowie rund  250.000 Ausreisewillige, die politische Motive vorgaben. Die Ausreise älterer Menschen verschaffte der DDR eine Entlastung ihrer Renten- und Krankenkassen.

Besuchsreisen in die Bundesrepublik

Zwar war es für DDR-Bürger aussichtsreicher, einen Antrag auf eine Besuchsreise in die Bundesrepublik zu stellen als eine ständige Ausreise zu erwirken, aber auch hier galt es  zahlreiche Hürden zu überwinden. Bei Nichtrentnern war es bis in die 80er Jahre nur in Ausnahmefällen, so genannten „dringenden Familienangelegenheiten“, möglich, das Plazet vom Staat zu erhalten. Gemäß einer 1972 erlassenen Anordnung konnte bei folgenden Reisegründen einem Antrag zugestimmt werden: Geburten, Eheschließungen, lebensgefährliche Erkrankungen und Sterbefälle – jedoch nur bei westdeutschen Verwandten ersten Grades. 1973 kamen die silberne und goldene Hochzeit hinzu. Voraussetzung für die Genehmigung war, dass eine schriftliche Zustimmung des Arbeitsplatzes vorlag und dass für die Besuchszeit Familienangehörige in der DDR zurückblieben. Bis zum Jahr 1982 wurde jedes Jahr ca. 40.000 Bürgern die Besuchserlaubnis erteilt. 1982 dehnte man die Besuchsgründe auf Jugendweihen, Konfirmationen und Kommunionen aus. Zudem konnten Verwandte in Westdeutschland anlässlich des 60., 65., 70., 75. und jedes darauf folgenden Geburtstags besucht werden. Die Zahl der Besuchsreisenden wuchs auf 60.000 pro Jahr.

1984 gewährte die Bundesrepublik Deutschland der DDR erstmals zwei Milliardenkredite. Als Gegenleistung wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten sowie die Reisegründe durch eine zentrale Weisung Honeckers erweitert. In den folgenden Jahren stiegen die Besuchsreisen kontinuierlich an: 1985 waren es 139.000 Reisen, bis 1986 bereits 573.000 und bis 1987 summierte sich die Zahl auf rund 1,3 Mio. Besuchsreisen.

Der Ermessensspielraum der Behörden bei der Genehmigung wurde mit der Weisung von Honecker erweitert, jedoch musste bei den Antragstellern weiterhin zumindest eine loyale Grundhaltung gegenüber der DDR zu erkennen sein. Die Prüfung der Anträge erfolgte weiterhin in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und den Volkspolizeikreisämtern.

Ab Februar 1988 versuchte die DDR-Regierung die Reiseregelung wieder restriktiver zu handhaben. Da 1987 etwa 3.000 überwiegend hochqualifizierte DDR-Bürger ihre Reise zur Flucht genutzt hatten, zeigte sich das Politbüro beunruhigt. Die Antragsgründe wurden daher eingeschränkt. Die Auslandsreisen von Hochqualifizierten und Partei-Kadern wurden besonders gründlich überprüft. Doch unter dem Druck von weiteren Finanzleistungen, die die Bundesregierung an die DDR tätigte, musste die DDR-Führung diesen Kurs in der Reiseregelung wieder aufgeben.

Ständige Ausreise aus der DDR

Noch schwerer als den Antragstellern von Besuchsreisen machte es die Staatsführung den Bürgern, die einen Antrag auf ständige Ausreise stellten. Bis 1983 gab es keine Rechtsgrundlage für die Beantragung einer Ausreise aus der DDR. Die Ausreisewilligen wurden kriminalisiert. Grundlage für den Umgang mit den Antragstellern waren geheime Verfügungen und Dienstanweisungen des Ministerrates, des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und des Ministeriums des Innern (MdI). De jure war das MdI für die ständige Ausreise zuständig, de facto besaß jedoch das MfS ein Direktivrecht gegenüber allen anderen beteiligten Ministerien. Seit 1975 koordinierte die eigens gegründete „Zentrale Koordinierungsgruppe“ (ZKG) den „Export“ von DDR-Bürgern in die BRD. Ihre Aufgabe bestand vor allem im Einspielen von Devisen durch Häftlingsverkäufe und Familienzusammenführungen.

Im September 1983 gab der Ministerrat eine erste offizielle Verordnung bekannt, welche die Ausreise aus der DDR, die „Wohnsitzänderung nach dem Ausland“ juristisch in Form eines Antragsrechts überhaupt erst regelte. Die Antragsteller mussten aber nach wie vor mit starken Sanktionen und langen Bearbeitungszeiten rechnen. Wer einen Antrag einreichte, wurde umfassend überprüft. Das Ziel lautete nach wie vor, Übersiedlungen in die BRD weitgehend zu unterbinden.

In Folge des Antragsrechts explodierte die Zahl der Ausreiseanträge in den folgenden Jahren: 1986 gab es rund 70.000 Anträge, 1987 112.000.

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Die Ausreisewelle von 1989

In eine international prekäre Lage geriet die DDR im Januar 1989, als sie das KSZE-Abkommen unterzeichnete und sich damit verpflichtete, ihren Bürgern persönliche Freizügigkeit zu gewähren. Auf dem KSZE-Informationsforum im April 1989 und während der Pariser Menschenrechtskonferenz im Juni desselben Jahres wurden der DDR ihre Ausreisepraxis, der Schießbefehl und die Berliner Mauer vorgeworfen.

Brisant wurde das Thema Ausreise auch aus anderen Gründen. Im Mai hatten ungarische Grenzsoldaten als Zeichen beginnender Reformen in Ungarn den Stacheldrahtzaun zur österreichischen Grenze durchtrennt. Am 19. August kam es während des „paneuropäischen Picknicks“ in Ungarn zur Flucht von 600 DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze. Drei Tage später, am 22. August, durchbrachen etwa 240 DDR-Bürger die Grenzanlagen. Tausende DDR-Bürger, die über diesen Weg zunächst erfolglos aus der DDR flüchten wollten, suchten Schutz in den bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau und hofften ihre Ausreise in die BRD somit noch durchsetzen zu können.

Während sich die Fluchtbewegung über Ungarn fortsetzte, forderten die Bundesrepublik und die Tschechoslowakei die DDR-Führung auf, etwas gegen die Botschaftsbelagerungen zu unternehmen. Diese konnte sich zunächst nicht zu einer Genehmigung der ständigen Ausreise durchringen - zu groß war die Angst vor einem Massenexodus von DDR-Bürgern in die BRD. Im Land wurden die Ausreisenden als Opfer westlicher Abwerbung dargestellt: „Die illegale Nacht- und Nebelaktion zur Abwerbung in Ungarn befindlicher DDR-Bürger ist generalstabsmäßig vorbereitet worden“, so die Nachrichtensprecherin Renate Krawielicki in der „Aktuellen Kamera“ vom 11. September 1989.

Doch schließlich „hat die Regierung der DDR nach Konsultationen mit den Regierungen der CSSR und der VRP sowie mit der Regierung der BRD veranlasst, dass die sich in diesen Botschaften rechtswidrig aufhaltenden Personen aus der DDR mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD ausgewiesen werden“, wie am 30. September 1989 der „Aktuellen Kamera“ zu entnehmen war.

Noch in derselben Nacht und vom 4. auf den 5. Oktober fand die Überführung in Sonderzügen statt. In den folgenden Tagen stieg die Zahl der Ausreiseanträge um täglich 1.000 Stück. Allein für den Monat Oktober 1989 wurden 188.180 Anträge registriert.

Als Egon Krenz am 18. Oktober die Führung des Staates übernahm, versprach er ein neues Gesetz für Reisen von DDR-Bürgern ins Ausland. Erste Entwürfe hierfür zeugten jedoch von der Reformunwilligkeit der Staatsführung. Auf den Demonstrationen der folgenden Wochen rückte das Thema Ausreise immer mehr in den Mittelpunkt. Am 6. November wurde schließlich ein neues Reisegesetz beschlossen. In der „Aktuellen Kamera“ vom selben Tag hieß es dazu:

„Laut Entwurf sollen künftig alle Bürger privat oder ständig ins Ausland reisen können und jederzeit auch wieder zurückkehren dürfen. Reisegenehmigungen würden danach in der Regel für insgesamt 30 Tage im Jahr erteilt.“

Vielen ging das Gesetz, das eine vorherige Beantragung der Reise festschrieb, jedoch nicht weit genug. In einer Umfrage der Nachrichtensendung "Aktuelle Kamera" erklärten DDR-Bürger: „Das ist der größte Käse, den ich jemals gehört habe. Wenn wir reisen, dann alle und dann 365 Tage im Jahr“; „Ich find’s komisch, wieso (...) bloß 30 Tage, und wieso nicht länger…“.

Der Ansturm auf die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik blieb indessen ungebremst. Die BRD schloss zeitweilig ihre Botschaften sowie die Ständige Vertretung in Ost-Berlin. Die Grenze zur CSSR musste auf Druck der Regierung der CSSR am 3. Oktober geschlossen werden. Als sie einen Monat später wieder öffnete und der Flüchtlingsstrom erneut einsetzte, ließ die DDR-Regierung 6.000 Bürger über die bundesdeutsche Botschaft in Prag in die BRD ausreisen. In den folgenden Tagen wählten zahlreiche DDR-Bürger ebenfalls diesen Weg:

„Die Ausreise von DDR-Bürgern über die CSSR hält an. Nach Angaben des Innenministeriums in Prag sind vom Sonnabend bis heute Mittag zwölf Uhr 23.200 Bürger über die CSSR in die BRD ausgereist“, war in der „Aktuellen Kamera“ vom 6. November 1989 zu hören.

Am 9. November beriet das Ministerium des Innern erneut über das Problem der Ausreise und bezog dieses Mal auch die Besuchsreisen in ihre Beratungen ein. Es wurde eine Ministervorlage erstellt, wonach jeder DDR-Bürger, auch ohne Vorliegen von Verwandtschaftsverhältnissen oder besonderen Anlässen, Privatreisen beantragen könnte. Die Genehmigungen sollten kurzfristig erteilt werden. Nur besonders schwerwiegende Gründe sollten eine Ablehnung rechtfertigen. Visa für die ständige Ausreise sollten ab sofort erteilt werden. Die Sperrfrist für die Verkündigung der Vorlage wurde auf den 10. November um 4.00 Uhr festgesetzt. Auf der Pressekonferenz zum Verlauf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED  am 9. November verlas Günter Schabowski in Unkenntnis der Sperrfrist jedoch den Inhalt des neuen Gesetzes und antwortete auf die Frage eines Journalisten, wann die neue Regelung in Kraft träte: „ab sofort, unverzüglich“.

Wenige Stunden später strömten Zehntausende von DDR-Bürgern über die Grenze nach Westberlin und in die Bundesrepublik.

Literatur

Hertle, Hans-Hermann: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, 6. Aufl., Berlin 1997.

Mayer, Wolfgang: Flucht und Ausreise. Botschaftsbesetzungen als Form des Widerstands gegen die politische Verfolgung in der DDR, Berlin 2002.

Schultke, Dietmar: „Keiner kommt durch“. Die Geschichte der innerdeutschen Grenze 1945 – 1990, Berlin 1999.

(gw)